Immer schön redlich bleiben

WAHLKAMPF Am Mittwoch trat Günter Grass in der SPD-Zentrale im Beisein von Peer Steinbrück auf

Die große Ironie des Abends: Peer Steinbrück hält sich Günter Grass so fern, wie das Willy Brandt in den sechziger und siebziger Jahren mit dem Schriftsteller auch schon getan hat

Um 19 Uhr sollte die Veranstaltung beginnen. Aber nur wer bereits um 18 Uhr gekommen war, hatte noch die Chance, einen Sitzplatz zu ergattern. Großer Andrang im Willy-Brandt-Haus am Mittwochabend.

Es ist längst eine Tradition: Vor jedem Bundestagswahlkampf trifft sich der Schriftsteller Günter Grass mit dem jeweiligen Kanzlerkandidaten der sozialdemokratischen Partei, nun also mit Peer Steinbrück. Beim Publikum zieht das immer noch. So voll ist die Berliner Parteizentrale der SPD sonst wohl nur noch, wenn an Wahlabenden vor laufenden Kameras die Wahlergebnisse zu kommentieren sind.

In der ersten Hälfte der Veranstaltung geht es aber erst einmal darum, Zeitgeschichte zu betreiben und nebenbei die sozialdemokratische Seele zu streicheln. Der Schauspieler Dieter Mann liest Willy Brandt und der Schauspieler Burghart Klaußner liest Günter Grass aus dem Briefwechsel der beiden, der gerade als dickes Buch im Steidl-Verlag erschienen ist.

Komplizierte Freundschaft

Es bringt Spaß, dabei zuzuhören. Eine komplizierte Männerfreundschaft. Grass drängelt, mahnt, wirbt. Brandt bedankt sich, ist auch politisch interessiert an der politischen Mitarbeit des „geistigen Deutschland“, bleibt aber oft auch auf Distanz. Ein schöner Höhepunkt des Briefwechsels ist, als Günter Grass nach dem SPD-Wahlsieg des Jahres 1969 ein Amt für sich anstrebt. Am liebsten möchte er Brandt direkt unterstellt sein und für die Entwicklungspolitik arbeiten, das könne, schreibt er, die „gesellschaftliche Stellung“ der deutschen Schriftsteller insgesamt aufwerten. Doch Brandt wäre das zu viel der Nähe. Er zieht sich darauf zurück, dass Grass als Privatmann doch viel wirkungsvoller sein könne, und bietet ihm zur Entschädigung offizielle Rollen bei Eröffnungen von Goethe-Instituten in Indien oder kulturelle Repräsentationsaufgaben in Südamerika an; eine hübsch verpackte Abfuhr. Und es ist eine wahre Glanznummer, wie Burghart Klaußner Grass’ nur mühsam unterdrückte Enttäuschung in dem Antwortbrief beim Vorlesen herausarbeitet. Kulturrepräsentation empfand er als unter seinem Niveau.

Dann der zweite Teil. Grass live, Steinbrück auch live, zwischen den beiden Wolfgang Thierse als Moderator. Natürlich ist es eine ziemlich hanebüchene Idee, dass so auf der Bühne ein ähnlicher Dialog zwischen Geist und Macht entstehen könnte, wie er in den Briefen zwischen Grass und Brandt stattfand. Steinbrück ist nicht Brandt (natürlich nicht). Aber der Grass von heute ist auch nicht mehr der Grass von damals, er kann einen nicht mehr überraschen.

Aber nach einigem Vorgeplänkel finden sie ein funktionierendes Verhältnis zueinander. Das besteht darin, dass Grass einen Gemeinplatz heraushaut, gegen Lobbyisten, die soziale Ungerechtigkeit, Kanzlerin Merkels europäisches Krisenmanagement oder die Bundeswehr ohne Wehrpflicht, die er als „Söldnertruppe“ beschimpft, und Steinbrück dann jeweils realpolitisch dagegenhält: Unterfinanzierung des Bildungssystems; wer Europa nicht kaputtsparen wolle, müsse als Deutscher auch Geld bereitstellen wollen; wer für ein demokratisch legitimiertes Europa sei, müsse auch nationalstaatliche Souveränität opfern; und die Bundeswehr sei keine Söldnertruppe usw.

Eigentlich macht Steinbrück das geschickt, nur mit dem Streicheln der Sozi-Seele ist es nun nichts mehr. Stattdessen gibt es Kosten-Nutzen-Rechnungen. Steinbrück rechnet vor, wie mühsam und klein-klein die konkrete Umsetzung hehrer Ziele immer sein muss. Was zu einer SPD-Folkloreveranstaltung hätte werden können, dreht er so um in eine Lehrstunde in Realpolitik. Offenbar hat sich Steinbrück für den Abend vorgenommen, redlich zu bleiben. Mit Rezepten aus dem Briefwechsel ist heute keine Politik mehr zu machen – er sagt das nicht direkt, aber jede seiner Antworten drückt das aus. Und die große Ironie des Abends ist, dass er sich Günter Grass so fern hält, wie Willy Brandt das in einigen Briefen auch schon getan hat. DIRK KNIPPHALS