Konsens bröckelt

AUS STRASSBURG DANIELA WEINGÄRTNER

Kurz vor der Abstimmung über die Dienstleistungsrichtlinie im Europaparlament am Donnerstag sind die Mehrheitsverhältnisse wieder unklar. Noch am Dienstagmittag glaubte die verantwortliche Berichterstatterin der Sozialisten, Evelyne Gebhardt, einen tragfähigen Kompromiss mit den Konservativen erreicht zu haben. Zwar blieben ihre französischen Fraktionskollegen bei ihrer ablehnenden Haltung, weil sie weiter Lohn- und Sozialdumping befürchten. Den Konservativen aus Osteuropa geht hingegen die Marktliberalisierung nicht weit genug. Doch die übrigen Mitglieder der beiden größten Parteien im EP hätten eine bequeme Mehrheit garantieren können.

Die Liste der unvereinbaren Punkte war zu diesem Zeitpunkt nach langen Verhandlungen ziemlich zusammengeschrumpft. „Begräbnisunternehmen“, „Verteilung und Aufbereitung von Wasser“ sowie „Erziehung und Ausbildung“ hatten die Sozialisten noch auf ihrer Wunschliste für Dienstleistungen, die auch in Zukunft vom freien Wettbewerb in Europa ausgenommen sein sollen. Die einzig harte Nuss schien der Streit, ob neben der Daseinsvorsorge auch „Dienste von allgemeinem wirtschaftlichen Interesse“ zu den Ausnahmen gehören sollen.

Unter die Daseinsvorsorge fallen Leistungen, die vom Staat finanziert werden wie Schulen oder Parkpflege. Von „allgemeinem wirtschaftlichen Interesse“ sind sie, wenn sie der Allgemeinheit zu Gute kommen, aber von privaten Firmen nach einer öffentlichen Ausschreibung übernommen werden. Je nach Land und Kommune können das Wasserversorgungsunternehmen, Müllentsorger oder Busunternehmen sein.

Die Grünen im EP sind mit dem Kompromisstext der großen Koalition so unzufrieden, dass sie auf jeden Fall nein sagen werden. Er sei „löchrig wie ein Schweizer Käse“, erklärte Heide Rühle. Die Linkspartei wird ebenfalls aus grundsätzlichen Erwägungen nicht zustimmen. Doch die EU-Kommission ist von den Änderungsvorschlägen der großen Koalition begeistert. Kommissionspräsident Barroso versprach, bis April einen überarbeiteten Entwurf nach Wünschen der Parlamentsmehrheit vorzulegen.

Der amtierende Ratspräsident, Österreichs Wirtschaftsminister Bartenstein, erklärte: „Europas Bürger haben ein Recht darauf, einen Binnenmarkt ohne das Risiko von Sozialdumping zu bekommen.“ Sollte sich das Parlament mit breiter Mehrheit auf einen Text einigen, könne schon beim Gipfel der EU-Regierungen im März eine gemeinsame Linie gefunden werden. Der Dienstleistungsmarkt, so Bartenstein, dürfe nicht zersplittert bleiben. Die Bürger hätten ein Recht auf niedrigere Preise und mehr Beschäftigungschancen. Bartenstein zitierte zwei neue Studien aus Wien und Kopenhagen, die 600.000 neue Jobs für die nächsten Jahre voraussagen, sollte der Markt geöffnet werden. Ob die Wissenschaftler für ihre Untersuchungen das alte Bolkestein-Modell zugrunde gelegt haben oder die Neufassung des Europaparlaments, sagte Bartenstein allerdings nicht.

Der Nachfolger des viel gescholtenen Binnenmarktkommissars Frits Bolkestein, der Ire Charlie McCreevy, erklärte gestern ebenfalls, er werde die Änderungen aufgreifen, wenn sie von einer großen Mehrheit im Parlament unterstützt würden. McCreevy, der bislang eher vom marktliberalen irischen Modell begeistert zu sein schien, hat nun auch sein Herz für europäische Sozialstandards entdeckt. Die Daseinsvorsorge sei ein sehr sensibler Bereich. Deshalb sei es sinnvoll, sie von der Liberalisierung auszunehmen, erklärte er. Müllabfuhr oder öffentlicher Nahverkehr sollten aber dem freien Wettbewerb ausgesetzt werden. Ob McCreevy dafür das deutliche Signal des Parlaments bekommt, das er so gerne hätte, ist eher unwahrscheinlich.