Fantastischer Realismus zwischen Taschen

FIKTION Der skandalumwitterte Borderline-Journalist Tom Kummer las im Freitag-Store aus einem ganz echten Text. Von der poetischen Anreicherung banaler Realitäten will er immer noch nicht lassen

Die Veranstaltung wird gleich beginnen. Alle stehen noch draußen herum, essen belegte Brote und trinken Bier. Da ereignet sich etwas Unerwartetes. Ein silberner Porsche fährt heran, wird langsamer, der Fahrer sucht ganz offensichtlich einen Parkplatz und findet auch einen. Ein Mann Mitte 40 steigt aus dem Wagen und nähert sich in federnden Schritten. Er sieht fabelhaft aus, trägt einen gut sitzenden Anzug und eine Sonnenbrille. „Ulf Poschardt?“, fragt jemand und ein paar Brotkrümel fallen ihm aus dem Mund. Alle schauen jetzt ungläubig auf den Mann. Der schaut kurz zurück, geht dann aber doch weiter. Und da beginnt auch schon Tom Kummers Vortrag über „Recherche vs. Inszenierte Realität“ im „Freitag-Store“ in Mitte, in dem normalerweise die berühmten und schon lange nicht mehr hippen Taschen aus recycelten Lkw-Planen verkauft werden. Tom Kummer ist hier, weil er mal wieder einen Text veröffentlicht hat.

Keinen unter Pseudonym, wie er das seit einiger Zeit wieder tut, wie er sagt, sondern einen echten Tom-Kummer-Text. Das Schweizer Reportagen-Magazin hat den wohl weltberühmtesten Journalisten, der nie einer war, gebeten, eine Reportage über die Grenze zwischen den USA und Mexiko zu verfassen. Unter der Überschrift „Borderline“ ist dieser auch erschienen, und darüber, was das bedeutet, soll jetzt also diskutiert werden.

Die Überschrift „Borderline“ ist eine Provokation, wie Tom Kummer sie liebt. Vor dreizehn Jahren ist aufgeflogen, dass er Interviews für den Schweizer Tagesanzeiger und das Magazin der Süddeutschen Zeitung frei erfunden hat. Nicolas Cage zitierte bei Tom Kummer Fassbinder, Sean Penn Kierkegaard und der knorrige Charles Bronson sprach einfühlsam über Orchideen. Es waren spektakuläre Interviews, mit denen die Redaktionen zufrieden waren und die das Publikum beglückt las. Die Stars wirkten durch die Texte noch größer. Einziger Schönheitsfehler dabei: Kummer hat sie nie getroffen.

„Borderline-Journalismus“ taufte man seine Technik, eine Realität zu erschaffen, die es gar nicht gibt, dem Leser aber plausibel erscheint. Tom Kummer hat sich nach dem Skandal aber nicht schuldbewusst zurückgezogen, sondern behauptet bis heute, dass die Abnehmer seiner Interviews, vorneweg Ulf Poschardt, der damals für das SZ-Magazin verantwortlich war, genau wussten, welche inszenierten Realitäten sie da von ihm bekommen haben. Und er verteidigt seinen Tom-Kummer-Stil, den er, drahtig und gut gebräunt zwischen all den bunten Taschen sitzend, mal als „Konzeptjournalismus“, mal als „Abenteuerjournalismus“ und dann wieder als „fantastischen Realismus“ beschreibt. Was ist schon „echt“ in Amerika, zumal in Los Angeles, wo Tom Kummer schon seit Jahren lebt? Echt ist der tödliche Grenzzaun, der Mexikaner davon abhalten soll, illegal in die USA zu kommen. Und Kummer war auch wirklich an diesem Zaun, das Reportagen-Magazin hat sich davon Beweisfotos schicken lassen. Und der Rest? Kummer beschreibt in seinem Text, wie er irgendwann von der Border Patrol aufgegriffen wird und sich spannende Dialoge entwickeln. „Ob das so passiert ist oder nicht, das sollte keine Rolle spielen“, glaubt er. Und in dem Moment betritt Ulf Poschardt den Raum. ANDREAS HARTMANN