Rollerski und Kehlkopflaute

DDR Egon Krenz errichtet Walter Ulbricht ein Buch-Denkmal mit über 600 Seiten

Die Ordnungskräfte hatten alle Mühe, zu verhindern, dass Ulbricht durch Freundschaftsbekundungen in Atemnot geriet

VON BARBARA BOLLWAHN

Stalinist, Marionette Moskaus, Arbeiter an der Staatsspitze, Patriot, Dogmatiker, Reformer, Zonen-Vogt, sächsischer Bösewicht: Lang ist die Liste der Etiketten, die dem in Leipzig geborenen Sohn eines Schneiders angehängt werden, der von 1949 bis zu seiner Entmachtung 1971 der bedeutendste Politiker der DDR war.

Zwei Jahrzehnte stand Walter Ulbricht an der Spitze des Zentralkomitees der SED, besaß die höchste politische Entscheidungsgewalt. Der ehemalige Vorsitzende des Staatsrats veranlasste den Aufbau des Sozialismus und den Bau der Berliner Mauer. Egon Krenz, der nach dem Mauerfall sieben Wochen lang Vorsitzender des Staatsrats war, hat Ulbricht jetzt ein Denkmal gesetzt, anlässlich des 120. Geburtstages am 30. Juni und 40. Todestages am 1. August.

Egon Krenz stellt im Vorwort kokett die Frage, ob nicht die Gefahr bestehe, Ulbricht zu heroisieren, und liefert gleich die Antwort dazu: „Selbst wenn. Solange man hierzulande mehr über Hitler, seine Generäle, seine Helfer, seine Frauen, seine Hunde, seinen Bunker erfährt als über die Kämpfer gegen den Faschismus, scheint mir eine gewisse Überhöhung sogar verständlich.“

70 Zeitzeugen und Weggefährten hat Krenz befragt und lässt sie in Interviewform erzählen, wobei er als Stichwortgeber fungiert und die Überhöhung kräftig ankurbelt. „Es widerstrebt mir, diese Stärke oder jene Schwäche Walter Ulbrichts hervorzuheben“, sagt etwa die ehemalige Bildungsministerin Margot Honecker. „Etiketten, die man unseren Politikern verpasst, oder Schubladen, in die man sie packen möchte, sind dumm und dienen der Geschichtsfälschung, letztlich ist das Teil des antikommunistischen Feldzuges, den sie aus Angst vor dem Gespenst des Sozialismus führen.“

Diether Dehm, Liedermacher aus dem Westen, der für die PDS/Linke im Bundestag sitzt, appelliert an „andere Wessis“: „Stöbert mehr! Über Ulbricht und diese Zeit. Mit den Fragemethoden des ‚lesenden Arbeiters‘.“ Siegfried Anders, Cheffotograf des Personenschutzes, der Ulbricht unter anderem bei Staatsjagden, Protokollterminen im Staatsrat sowie bei Auslandsreisen fotografierte, schwärmt, dass es „mit die schönsten Motive“ alljährlich am 30. Juni gegeben habe, „wenn Pioniere bei ihm [Ulbricht; Anm. d. Red.] in Wandlitz am Geburtstag zum Gratulieren kamen.“ Wegen eines Fotos, das er im Juni 1971 gemacht hat, gerät er noch heute in Rage. Auf dem Bild empfängt Ulbricht das Politbüro – im Morgenmantel und in Pantoffeln. Wenige Wochen zuvor hatte der VIII. Parteitag der SED stattgefunden, an dem Ulbricht nicht teilnahm, weil er krank war, und auf dem die Delegierten das Zentralkomitee wählten und dieses Erich Honecker in seiner Funktion bestätigte, die er bereits im Mai von Ulbricht übernommen hatte. Die „Veröffentlichung des Ausschnitts und die Platzierung im Zentralorgan der Partei“ [Neues Deutschland; Anm. d. Red.] nennt der Fotograf „einen Skandal“.

Auch der Arzt, der den kranken Ulbricht in den letzten zwei Jahren vor dessen Tod behandelt hat, kommt zu Wort und gibt seine Diagnose ab: „Er war körperlich und geistig besser beieinander als die beiden letzten Päpste in ihren letzten Dienstjahren und durchaus noch in der Lage, die Staatsgeschäfte zu führen.“

Unter den befragten Zeitzeugen ist auch Edmund Weber, der von 1961 bis 1973 als „persönlicher Begleiter“ für die Sicherheit von Ulbricht zuständig war. Krenz kriegt sich gar nicht mehr ein, dass Weber für das Ulbricht-Buch erstmals sein Schweigen bricht. Dass er nur Belanglosigkeiten von sich gibt, stört Krenz nicht und er lässt sich einen Tagesablauf Ulbrichts schildern: „Es begann mit Frühsport. Er machte Gymnastik auf der Terrasse oder lief auf Rollerski durch die Waldsiedlung. Das dauerte etwa eine halbe Stunde. Und nach dem Frühstück ging es zur Arbeit. Da habe ich ihn von zu Hause abgeholt. Etwa 8.30 Uhr saß er an seinem Schreibtisch im ZK oder im Staatsrat.“

Den wohl größten Unterhaltungswert hat das Buch bei der Schilderung einer Reise nach Ägypten, die Walter Ulbricht 1965 unternahm, begleitete von Ewald Moldt, dem Leiter der Presseabteilung im Außenministerium. Über den Besuch einer Baumwollspinnerei gibt der spätere stellvertretende Außenminister folgende Depesche zu Protokoll: „Dann besuchten wir die Baumwollspinnerei Schibin el Kum. Die ägyptischen Textilarbeiter begrüßten uns mit ausgelassener, überschwänglicher Freude. Die Ordnungskräfte hatten alle Mühe, zu verhindern, dass Ulbricht durch Freundschaftsbekundungen in Atemnot geriet. In großer Anzahl gaben Frauen gemäß dortigem Brauch Kehlkopflaute zum Besten. Mit vibrierenden Zungen erzeugten sie schrille Laute, mit denen sie für die hunderttausend Spindeln aus der DDR-Produktion dankten.“

Egon Krenz (Hrsg.): „Walter Ulbricht“. Das Neue Berlin 2013, 608 S., 24,99 Euro