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Archiv-Artikel

Auf der Suche nach Adorno

GEIST Früher hatten wir große Intellektuelle. Heute haben wir den „Lifestyle-Philosophen“ Richard David Precht. Armes Deutschland! Oder ist es doch komplexer?

Theodor W. Adorno

■ Leben: Der Soziologe und Philosoph wurde 1903 in Frankfurt am Main geboren. Als Sohn eines jüdischen Weinhändlers und einer katholischen Sängerin wuchs er in behüteten Verhältnissen auf. 1938 floh Adorno vor der Nazi-Verfolgung und emigrierte mit seiner Frau in die USA. 1949 kehrte er zurück nach Frankfurt, wo er später Direktor des berühmten Instituts für Sozialforschung wurde. 1969 starb er an einem Herzinfarkt.

■ Werk: Adorno gilt als Mitbegründer der Kritischen Theorie. Als Hauptwerk bezeichnete er seine „Negative Dialektik“ (1966). Gemeinsam mit Max Horkheimer verfasste er das oft zitierte Werk „Dialektik der Aufklärung“ (1947), in der sie die „verwaltete Welt“ kritisierten, in der alles Individuelle vernichtet würde. Adorno formulierte zudem die Forderung, dass Auschwitz „nicht noch einmal sei“.

■ Adorno im TV: bit.ly/17BW0fO

VON PETER UNFRIED

Moment“, ruft Richard David Precht aus einer Art Bibliothek in die Küche rüber. Wohnungsstyle: Bücher, Fische und ausgestopfte Vögel. Dreißig Sekunden später krächzt er von einem anderen Regal: „Wo hab ich ihn denn nur hin?“ Dann tritt er ins Blickfeld. Auf Strümpfen. Dazu trägt er Jeans, lange Haare, Zweitagebart und ein hellblaues Hemd. Heimdresscode.

Man sieht seine Augen eine weitere Bücherwand scannen. Schließlich sagt er indigniert: „Jetzt finde ich den Adorno nicht.“ Wir kommen darauf zurück.

Zunächst ist es wichtig, von den hochgezogenen Augenbrauen zu sprechen, wenn die Rede auf Precht kommt.

„Richard David Precht?“, brummen manche Leute dann und garnieren das mit einem möglichst überlegenen Lächeln. Soll heißen: Bitte. Ich hab Abitur.

Leute, die bei Precht überlegen lächeln, lächeln auch so bei: Eckart von Hirschhausen, Frank Schirrmacher, Til Schweiger, Katrin Göring-Eckardt, Waldemar Hartmann und (falls sie die kennen:) Carmen Geiss. Nur bei Kristina Schröder und Peer Steinbrück rasten sie aus.

Ein Buch von Precht haben sie selbstverständlich nie gelesen. Auch sein neues nicht.

Richard David Precht wurde 1964 geboren, seine Eltern waren Achtundsechziger, Marxisten und Atheisten. Hannes Wader war Pflicht (was er okay fand), Coke tabu. Durch die Morde der RAF brach das Weltbild der Eltern zusammen, sie wurden ordentliche Pazifisten und Grüne. Precht gehört zum geburtenstärksten Jahrgang der Bundesrepublik, wie Jürgen Klinsmann, Veronica Ferres, Hape Kerkeling und etwa 1,5 Millionen andere. Mit der Ferres ging er in Solingen in dieselbe Klasse. Sie war zu groß, er war zu klein. Mit Mädchen hatte er es generell nicht, bevor er zwanzig war. Dafür las er viel.

Warum finden gerade Leute mit Hochschulabschluss Richard David Precht blöd? Hier muss man relativieren, dass er zugleich auch Darling der Mittelschicht ist, sonst hätte er nicht Millionen Bücher verkauft, die sich mit Rousseau, Luhmann, Hirnforschung oder Vegetarismus beschäftigen. Also: Er hat ein anderes Publikum als Klum, Katzenberger und Bohlen.

Wer schreibt, ist schlimm. Wer talkt, noch schlimmer

Unrepräsentative Recherchen ergeben, dass es sich beim einen Teil seiner Gegner um eine ästhetische Ablehnung handelt, die sich aus drei Quellen speist: Sobald man Bücher schreibt, die viele Leute lesen (1), ist man schlimm, sitzt man in Talkshows (2), ist man noch schlimmer, und wenn man dann als Mann lange Haare hat und als gutaussehend (3) gilt, ist alles zu spät. Schnösel.

Ein Sonderfall ist es, medienrelevant aber, wenn man selbst noch hässlicher Feuilleton-Redakteur ist, dessen Standardwerk über die Boheme in Böhmen vor dem Siebzgerkrieg mal wieder kein Schwein gelesen hat.

Jedenfalls denkt Precht selbst, dass Neidkompensation in der Precht-Rezeption eine Rolle spielt. Er hält auch Vorträge über Gerechtigkeit und seine These ist: Je höher der Gerechtigkeitsanspruch einer Gesellschaft, desto größer der Neid. In ungerechten Gesellschaften, etwa der russischen, gebe es keine Neiddebatten. So gesehen muss es bei uns ziemlich gerecht zugehen, angesichts des permanenten Abwertungsbedürfnisses von Erfolg?

„Neid ist der Preis, den wir zahlen müssen für einen hohen Anspruch an Gerechtigkeit“, sagt Precht.

Vorgetragen werden die Bedenken selbstverständlich nie als Neid, sondern stets als Kulturpessimismus. Ja, früher, heißt es, da hatten wir noch Intellektuelle. Adorno. Bloch. Arendt. Die Mitscherlichs. Grass, Böll, Enzensberger. Jürgen Habermas, klar.

Heute haben wir Precht. Armes Deutschland?

Vielleicht ist es hilfreich, sich zu erinnern, was wir vor Adorno hatten. Wir hatten Hitler, den Holocaust, den verlorenen Weltkrieg und die Mauer. Der Publizist Klaus Hartung hat schon 1997 Wesentliches geschrieben zu dem „irreversiblen Bruch der Intellektuellenrolle nach der Epochenwende 1989“.

In aller Kürze: Nachdem die Bürger der DDR die Mauer niedergerissen und den real existierenden Sozialismus aufgegeben hatten, wusste der Intellektuelle nicht mehr so recht, was (seine) Sache und seine Haltung war.

Weil: Jetzt wurde es normal, also kompliziert. Manche sagen: Der Intellektuelle floh in den sicheren Elfenbeinturm.

Davor, sagt Hartung, sei der Intellektuelle das institutionalisierte schlechte Gewissen der Deutschen gewesen, immer in Negation zur auch wieder schlimmen Bundesrepublik, antiamerikanisch, anti-AKW, antikapitalistisch und so weiter, ein „Staatsbürger des ‚anderen Deutschland‘“, das nicht die DDR meinte, sondern eine gesellschaftspolitische Utopie. Diese Weltsicht wurde Mainstream und ein Lebensstil, der heute noch existieren soll: Man sagte entschieden „Nein“ zu dieser Bundesrepublik und lebte dabei fett und zufrieden in ihr.

Es kommen noch andere Faktoren hinzu, warum Intellektuelle marginalisiert sind: der Zwang zur Spezialisierung, der Rationalisierungsdruck von außen, die Entwicklung des Wissenschaftsbetriebs und der Medien, der damit verbundene Bedeutungsabsturz des Zeitungsfeuilletons. Jürgen Habermas himself hat vor mehreren Jahren darauf hingewiesen, wie der Strukturwandel der Öffentlichkeit den Intellektuellen verändert.

Im Grunde ist er der Einzige, der mit einem Zeitungsartikel noch eine Diskussion auslösen kann. (Bei Grass reagiert nur noch die Unterhaltungsindustrie.) Es gibt viel mehr öffentliche Orte als früher, aber keine mehr, von denen aus man die öffentlichen Diskurse führen oder steuern könnte. Auch die FAZ könnte heute keinen kritisch intervenierenden Großintellektuellen positionieren; und wozu auch, wenn ihr Herausgeber Schirrmacher das Geschäft selbst erledigen kann?

Und dann gilt eben das Talkshow-Paradoxon: Ein Intellektueller, der nicht im Fernsehen ist, wird nicht gehört. Ein Intellektueller, der im Fernsehen ist, wird nicht mehr ernst genommen.

Man beklagt, dass nur Köchinnen, Schauspieler, Politiker und Experten in ARD und ZDF diskutieren. Aber gesellt sich ein Intellektueller dazu, lässt man vom Koch ab und prügelt auf den Intellektuellen ein. Also auf Precht.

Jetzt hat er auch noch eine Philosophie-Sendung im ZDF.

„Precht macht dumm“, ächzte die Zeit, nachdem sie eine Folge gesehen hatte. Das habe ja nichts mit Philosophie zu tun, das Ding. Beim nächsten Mal leitete Precht seine Gedanken brav von den Philosophen der Antike über die der Aufklärung bis zu denen der Neuzeit her. Danach zischte ein Hauptstadt-Kritiker: „Bildungsprotzer“. Wie man’s macht.

„Ich hab da keine Chance“, sagt Precht. Er sitzt wieder an seinem Küchentisch und beschäftigt sich mit einer belegten Brötchenhälfte. Die Wohnung ist in Köln, wo er seit dem Studium lebt, er teilt sie sich mit seinem leiblichen Sohn. Prechts Lebenspartnerin und deren drei Kinder leben in Luxemburg.

Interessant: Der Philosoph Peter Sloterdijk – langhaarig – galt so lange als schlimm, wie er mit dem „Philosophischen Quartett“ auf Sendung war. Als Precht den Sendeplatz übernahm, war Sloterdijk ein Licht in dunkler Nacht und seine Sendung das letzte Refugium des Intellektuellen an einem öffentlich-rechtlichen Ort. Überhaupt: Je bekannter Precht wurde, desto weniger galt Sloterdijk als Philosophen-Hallodri.

Aber werden wir mal differenziert: Sloterdijk hat eine Professur in Karlsruhe und ein eigenes Werk, angefangen mit der „Kritik der zynischen Vernunft“. Max Horkheimer und Theodor W. Adorno haben ihren Zeitgenossen analytisches Handwerkszeug gegeben, die Kritische Theorie, mit dem man Gesellschaft besser oder anders verstehen konnte. Precht hat seinen Doktorgrad mit einer Arbeit über Robert Musil erlangt. Er hat zwei Honorarprofessuren, in Berlin und Lüneburg, Bestseller und Medienpräsenz. Aber kein eigenes Werk.

Richard David Precht will das Gymnasium abschaffen. Holy shit

Und ausgerechnet das Fernsehen hat ihn als neuen Pop-Intellektuellen des Landes ausgerufen – Deutschlands damalige Literaturkönigin Elke Heidenreich.

Die empfahl Anfang 2008 seine Philosophie-Einführung „Wer bin ich – und wenn ja, wie viele?“ in ihrer Sendung „Lesen“.

„Den machen wir berühmt“, soll sie laut FAZ gesagt haben.

„Nein, habe ich nicht gesagt“, stellt sie auf Nachfrage klar. Aber?

„Als ich Prechts einfache Erklärung von Philosophie las, wusste ich: dafür ist Bedarf.“

Warum finden gerade Leute mit Hochschulabschluss Precht blöd?

„Das müssen Sie diese Leute fragen. Ich finde ihn klug, schön, sympathisch.“

Während sich in gebildeten Kreisen das Vorurteil hält, wer schön sei, sei auch doof, meint Heidenreich, dass nur schön ist, wer auch klug ist. Stephen Hawking sei sicher schöner als etwa Paris Hilton.

Seit ihrer Sendung ist Precht jedenfalls berühmt und bekam die freie Stelle als der Public Intellectual in Deutschland, der die Philosophie vertritt. Nach der Philosophie-Einführung kam die Liebe („Liebe“, 2009), dann die Moral („Die Kunst, kein Egoist zu sein“, 2010). Dann die Philosophie für Kinder („Warum gibt es alles und nicht nichts?“, 2011). Das Erfolgsprinzip blieb gleich: Ein kompliziertes Thema wird so verständlich aufgeschrieben, dass es viele Menschen bereichernd finden. Der Übererfolg von „Wer bin ich“ (um die 1,5 Millionen) war nicht zu wiederholen, aber insgesamt wurden laut Goldmann-Verlag 2,6 Millionen Precht-Werke verkauft.

Die Feuilletons ignorierten oder verrissen diese Bücher. „Die veröffentlichte Meinung in den Feuilletons ist extrem unwichtig. In Bezug auf den Bücherverkauf ist es egal“, sagt Precht an seinem Küchentisch. Das verstärke vermutlich das Ohnmachtsgefühl.

Er habe so viel Ahnung vom Thema wie Oliver Pocher, keifte die SZ. „Eine Sache einfach darzustellen, ist schwieriger, als sie schwierig darzustellen“, sagt Precht und erzählt, wie er unlängst einen Fachaufsatz schreiben musste und vor dem Problem stand, nicht zu verständlich schreiben zu dürfen, weil die Klarheit dem akademischen Code widersprochen hätte und der Inhalt dadurch weniger wert gewesen wäre.

Seine These: „Von Deutschen wird nur jene geistige Leistung wirklich bewundert, die man nicht ganz versteht.“ Warum das denn? „Weil man sich sonst sagt: Das kann ich ja auch.“

Den einen Teil der Philosophie an den Universitäten – die historische – nennt er „Altbausanierung“. Der andere – die analytische – eigne sich nicht für öffentliche Debatten. Für sich beansprucht er Gegenwartsbezug. „Was ich mache, innerhalb von Public Philosophy, ist nicht intellektuelle Ästhetisierung von Gedankengängen, sondern eine Art Ingenieurswissenschaften im Bereich des Geistes. Nämlich zu schauen: Kann man über die Brücke wirklich rüberfahren?“

Er denkt, dass ihn vielleicht die Feuilletonisten ablehnen, nicht aber die Wissenschaftler. Sicher, seine Bücher seien für manche Philosophieprofessoren „die abgewandte Seite des Mondes“, aber viele akademische Freundschaften seien erst in den letzten fünf Jahren entstanden. Also, seit er berühmt ist.

Behutsame Stichproben im wissenschaftlichen Betrieb ergeben, dass Begeisterung dort zumindest nicht flächendeckend herrscht. Einer wollte Precht mal in einen akademischen Kongress integrieren, aber das sei nicht durchsetzbar gewesen. Seine Medienpräsenz wird auch dort kritisch beäugt. Und selbstverständlich gibt es die Kritik, er habe den Stoff nicht angemessen durchdrungen oder angemessen durchdrungen dargestellt.

Prechts Argument ist, dass er durch seine Übersetzungen den Massen Zugang zu Denken und Wissen verschafft. Demgegenüber steht Adornos Kritik an der Kulturindustrie (in „Dialektik der Aufklärung“), die im Wesentlichen auf Kapitalisierung von Kultur und Herrschaftssicherung durch eine wissensfeindliche Macht hinausläuft.

Massenkultur ist demnach etwas Sinnfreies, das man Leuten untergejubelt hat, damit sie konsumieren und blöd bleiben. Das jedoch ist aus der historischen Erfahrung des deutschen Großbürgers Adorno geschrieben, der als Jude vor den Nazi-Deutschen ins Exil fliehen musste.

Wir sind jetzt bei dem Problem, vor dem jeder anständige Journalist beim Verfassen eines Textes steht: Er muss Komplexität reduzieren. Dabei bewegt er sich zwischen zwei Polen. Fehlt nicht etwas Wichtiges, wenn ich vereinfache? Gehen mir Fluss und Leser verloren, wenn ich die Komplexität drinlasse? Und im Zweifel gibt es in Wissenschaft und Journalismus immer auch Pflaumen, die mangelndes Können mit dem Argument vertuschen, sie stemmten sich gegen Popularisierung. Konkret: Wenn Sie jetzt hier noch mitkommen, bin ich unterkomplex.

Wobei Juliane Rebentisch vehement sagt: Mehr Komplexität wagen. Rebentisch, Jahrgang 1970, ist Professorin für Philosophie und Ästhetik in Offenbach und assoziiertes Mitglied des Frankfurter Instituts für Sozialforschung, an dem Adorno und Horkheimer tätig waren.

Also, bitte: Wäre Adorno zu Jauch oder Illner gegangen?

Sie hält nichts davon, dass man Leute „abholen“ müsse, wo sie stünden, also immer unter einem. „Es gibt Gründe, warum bestimmte Sachen einer anderen Sprache bedürfen“, sagt sie. Weil sie schlicht kompliziert seien. Es ist nicht nur die Sprache, es ist der Inhalt. Precht sei daher eine „ambivalente Figur“.

Vielleicht muss man Precht in Rebentischs Sinne tatsächlich in mehrere Figuren aufspalten. Precht 1 ist für sie der Precht, wie er selbst wirken will. Ein moralischer Generalist, der kalte Expertenaussagen über Pisa-Ergebnisse in Finnland oder das Arktische Eisschild auf ihre Bedeutung für die Gesellschaft prüft. Unabhängig von der Frage, ob man mit ihm jeweils in der Sache übereinstimmt: Sie findet gut, dass sich Precht nicht darum kümmert, dass er für seine unironischen öffentlichen Auftritte peinlich gefunden wird. Vielmehr sei in der Differenz zwischen Precht und den ständig uneigentlich sprechenden Medienprofis ein Zeichen seiner intellektuellen Redlichkeit zu sehen.

Richard D. Precht

■ Leben: Der Philosoph wurde 1964 in Solingen geboren. Er wuchs mit vier Geschwistern in einem linken Milieu auf. Sein Vater, Industriedesigner, und seine Mutter, Hausfrau, waren Teil der Achtundsechziger-Bewegung. Precht studierte Philosophie, Germanistik und Kunstgeschichte in Köln. 1994 promovierte er in Germanistik über Robert Musils „Der Mann ohne Eigenschaften“. Heute hat er Honorarprofessuren in Lüneburg und Berlin.

■ Werk: Precht hat kein Werk im eigentlichen Sinne verfasst. Bekannt wurde er durch populärwissenschaftliche Bücher, in denen er Philosophie anschaulich erklärt. Sein größter Erfolg ist das 2007 erschienene Buch „Wer bin ich – und wenn ja, wie viele?“. Es folgten „Liebe. Ein unordentliches Gefühl“ (2009), „Die Kunst, kein Egoist zu sein“ (2010) und zuletzt „Anna, die Schule und der liebe Gott“ (2013).

■ Precht im TV: bit.ly/10ktTvX

Anders ist es mit Precht 2: Für sie der Precht, der sich als „Ingenieur“ der Geisteswissenschaften begreift, der diese von überflüssigem Ornament befreien und ihren nützlichen Kern freilegen will. Dadurch aber werde er – nicht willentlich, aber doch – zum Agenten der neoliberalen Tendenz, die Geisteswissenschaften am falschen Maßstab unmittelbarer Wirksamkeit zu messen. Er unterschätze die wichtige Funktion, die gerade auch die vermeintlich randständige, vorderhand unverständliche, auf den ersten Blick weltabgewandte geisteswissenschaftliche Forschung für das Leben der Demokratien einnimmt.

Weil aber Precht sich immerhin überhaupt öffentlich auf den geisteswissenschaftlichen Diskurs, insbesondere selbstverständlich den der Philosophie bezieht, gibt es für Rebentisch auch noch Precht 3. Das ist der Platzhalter dafür, dass auch Fernsehen ein Ort für intellektuelles Sprechen sein kann. Rebentisch spürt nicht nur den Bedarf, sondern auch eine teilgesellschaftliche Sehnsucht nach mehr „Orten des anderen Sprechens“, wo das Werk entscheidend ist für das Gehörtwerden – und nicht die Medienprominenz.

Ich bitte Sie: Wäre Adorno zu Jauch oder Illner gegangen?

Klingt gut, die Frage. Führt aber zu nichts. Adorno war auch ein Medienstar und hatte ja im Exil in Hollywood gelernt. Die wahre Frage ist, wie und wo man heute kritisch interveniert, dass etwas daraus folgt.

Man hat im Gespräch mit ihm den Eindruck, Precht sei selbst auch nicht glücklich mit der Art, wie man in Talkshows ihn und seine Themen aufbereitet.

Einerseits weiß er, dass er im Sinne Pierre Bourdieus als „smart talker“ eingesetzt wird, griffig und dabei gutaussehend formulieren muss. Andererseits macht er längst nicht so viel mit, wie man draußen den Eindruck hat, sucht seine Talkshows skrupulös aus und wägt ab, wie vernünftig es werden könnte.

Der Mann ist nämlich, das merkt man schnell, komplett unzynisch. Er meint es ernst.

Precht ist kein Ironiker. Er meint es ernst. Bierernst

Einmal forderte Precht ein soziales Pflichtjahr für Rentner. Sofort hetzte ihm Bild die Senioren und die Ministerinnen von der Leyen und Schröder auf den Hals. Das zeigt, dass er die Macht hat, Öffentlichkeit zu erreichen.

Und nun interveniert er in der Frage des Allerheiligsten unserer deutschen Nation. Richard David Precht will das Gymnasium abschaffen. Holy shit.

Deshalb irrt er durch seine Kölner Wohnung auf der Suche nach Adornos Text „Tabus über dem Lehrberuf“, der in sein Buch eingeflossen ist. Er will zeigen, was Adorno über die Aufgabe der Schule in Hinblick auf die „Entbarbarisierung der Menschheit“ schrieb (auch: „Mit Barbarei meine ich nicht die Beatles“).

In seinem neuen Buch „Anna, die Schule und der liebe Gott“ fordert Precht die flächendeckende integrative Gemeinschaftsschule. Er will den Ländern die Zuständigkeit abnehmen, den Kommunen weitgehend freie Hand lassen, er will die Zusammenlegung des Bildungs- mit dem Familienministerium. Er will den Schülerjob individueller und selbstständiger definieren und dafür auch den Lehrerjob neu – weniger Zampano, mehr Assistent seiner Schüler, vergleichbar ausgebildet.

Also Einheitslehrer. Jesusmaria. Wenn die FAZ das Wort nur hört, ist sie auf den Barrikaden.

Prechts eigene Gymnasialzeit in Solingen war jetzt nicht traumatisch. Aber schon desillusionierend. Schlechte Lehrer. Und weit und breit keiner jener Leuchtturm-Pädagogen, die in manch gnädig-verblasster Erinnerung alles rausgerissen haben, weil sie so begeisternd waren.

Precht regt noch immer auf, dass sein Sohn in einer Arbeit die Hälfte der Punkte abgezogen kriegte, weil er zwar aus dem Präsens ins Imperfekt fehlerfrei übersetzt hatte, aber die Worte nicht unterstrichen, wie befohlen. „Das ist Schule 2013“, sagt er. „Die Kompetenz ist da. Aber bestraft wird, dass der behördliche Weg nicht eingehalten wurde.“

Warum ist ein Teil der Gesellschaft und der Mittelschicht dermaßen auf das Gymnasium fixiert? In der Analyse ähnelt er dem Soziologen Harald Welzer („Selbst denken“), übrigens auch gutaussehend und langhaarig: Es handle sich um eine grundsätzliche Angst, dass die Zukunft schlechter werde, weshalb man sich an die Gegenwart klammere und speziell an die eigenen Privilegien. Deren Verteidigung durch Eltern, Lehrer, Politiker, verhindere am stärksten den Umbau des Schulsystems.

Das Ziel seiner Intervention? „Dass die, die sich bereits dafür einsetzen, sich bestärkt fühlen und ein stärkerer Wind entfacht wird. Und dass in der Bildungsdiskussion wieder darüber geredet wird, wie Schule sein soll – und nicht, was nicht geht.“

Theodor W. Adorno, „Tabus über dem Lehrberuf“ (1963)

Nicht nur im Deutschen finden sich eine Reihe von herabsetzenden Ausdrücken für den Lehrberuf; englisch: schoolmarm für altjüngferliche, verdorrte, unfrohe und eingetrocknete Lehrerinnen. Unverkennbar besitzt der Lehrberuf ein gewisses Aroma des gesellschaftlich nicht ganz Vollgenommenen

Richard David Precht, „Anna, die Schule und der liebe Gott“ (2013)

Ein guter Lehrer ist ein Lehrer, der neben den geforderten guten auch von den geförderten schlechten Schülern geachtet und geschätzt wird. Es ist im Grunde ganz banal. Erstens: Es muss eine Person sein, die Kinder liebt. Und zweitens eine Persönlichkeit, der man gern zuhört. Beides kann man nicht lernen

Adorno über die Liebe

Geliebt wirst du einzig, wo du schwach dich zeigen darfst, ohne Stärke zu provozieren

Precht über die Liebe

Liebe ist nicht alles im Leben; aber ohne Liebe ist alles nichts

Mittlerweile hat Precht das Thema in einigen Talkshows auf die Agenda gebracht. Die FAZ kreischte online, nach einem Auftritt: „Vergesst Precht!“

Vorher haute sie ihn noch gedruckt mit der Keule weg. Klassische Abwertungsargumentation: Man kann ja über vieles mit uns reden, aber nicht, wenn man keine Ahnung hat. Dass Precht fünf Jahre Wissenschaftlicher Mitarbeiter am Lehrstuhl für Schulpädagogik in Köln war? Auch wohlgesonnenere Experten murren ein bisschen. „Anna“ wirke zusammengestoppelt und enthalte kaum Neues.

Dass er ein hohes Risiko eingeht durch den Schritt vom philosophischen Übersetzer zum Stürmer der Festung Gymnasium, ist Precht klar. Aber er pocht ja darauf, dass der Generalist zurück in die Arena muss. Will er wirklich eine „Revolution“ und nicht nur eine Reform, wie er immer sagt? Klar, will er.

„Das ist bierernst, was ich jetzt hier schreibe, das soll auch bierernst genommen werden.“

Er schaut auf. „Jetzt schreiben Sie bitte nicht ‚bierernst‘ auf.“

„Jetzt wollte ich gerade ‚bierernst‘ aufschreiben.“

„Schreiben Sie ernst. Bitte nicht ‚bierernst‘.“

Es ist ihm ernst mit seinem Konzept für eine bessere Schule, und er glaubt, dass sie kommt. Precht sagt: „Ich kann Ihnen auch nicht sagen, warum ich optimistisch bin, außer es negativ zu formulieren: Ich bin optimistisch, weil es mich abstößt, pessimistisch zu sein. Weil Pessimismus, Zynismus, Desillusionierung ein so gewaltiges Feld besetzen, dass es keine Alternative zum Optimismus gibt.“

Und damit zu der Moral: Die Generation Zeigefinger hat ihre Schuldigkeit getan und zuletzt auch oft ziemlich genervt. Es geht nicht mehr um die großen Fragen des 20. Jahrhunderts und darum, von schweigenden Nazi-Eltern Aufklärung zu fordern und sich mit Rock ’n’ Roll gegen Volksmusik abzugrenzen (auch wenn Cem Özdemir Letzteres noch glaubt). Noch ist es kühn, zu postulieren, dass sich in diesem Moment ein neuer Rollentyp etabliert. Mittelalt, aber jünger wirkend. Anti-Establishment-Touch, langhaarig, Spiegel-Bestsellerliste.

Es geht jetzt um die großen Fragen des 21. Jahrhunderts und unangenehmerweise darum, die kritische Intervention und das Nein zu verknüpfen mit einem Ja und einer Lösung. Radikal dekonstruieren, jenseits aller Parteien und Abhängigkeiten, aber dann auch konstruktiv einen alternativen Vorschlag parat haben. Das ist die Aufgabe unserer Zeit und unserer Intellektuellen.

In diesem Sinn ist auch der öffentliche Intellektuelle Richard David Precht vorndran.

Peter Unfried, 49, ist Chefreporter der taz. Sein Sohn heißt nicht Adorno