Einkehrschwung für Unvollendete

Michaela Dorfmeister wird endlich Abfahrts-Olympiasiegerin, Österreich jauchzt vor Freude und die Heldin selbst weint vor Glück. Die einzige deutsche Teilnehmerin Petra Haltmayr erreicht einen so überraschenden wie respektablen sechsten Platz

AUS SESTRIERE FRANK KETTERER

Der Himmel war trübe geworden über San Sicario Fraiteve, und wo am Vortag noch die Sonne fröhlich gelacht hatte, hingen nun missmutig graue Wolken. Es waren schwierige Umstände gekommen an diesem Mittwoch der Frauen-Abfahrt auf der Fraiteve Olympique, wie nicht nur Petra Haltmayr fand. „Das war ziemlich gefährlich, denn die ganzen Wellen auf der Strecke sah man nicht“, erzählte die Frau aus Rettenberg später von den Bedingungen auf ihrer Schussfahrt hinab ins Ziel, und vielleicht sah die 30-Jährige dort auch deshalb erleichtert aus, weil sie das Rennen nicht nur heil, sondern auch noch ziemlich schnell zu Ende gebracht hatte: Mit Startnummer 19 war Haltmayr losgefahren, in 1:57,69 Minuten und als zu diesem Zeitpunkt Führende angekommen.

Das zwar zwischenzeitlich zumindest eine kleine Sensation. Und wäre gar eine große Sensation geworden, hätte Haltmayr auch am Ende mit einem Platz auf dem Podest dagestanden. Den Beweis, dass das bei Olympia durchaus im Bereich des Möglichen liegt, hatte schon am Sonntag das Männerrennen geliefert, wo der Franzose Antoine Deneriaz allen Favoriten eine lange Nase gedreht hatte. Und auch wenn Petra Haltmayr ein solcher Coup kurze Zeit später versagt blieb, mit Rang sechs zufrieden konnte sie allemal sein. „Ich habe meine Leistung auf den Punkt gebracht“, sagte sie.

Die Rest der Frauenabfahrt sollte dann nämlich doch vorhersehbarer verlaufen, vor allem ab Startnummer 23. Mit dieser stürzte sich Michaela Dorfmeister, die Gesamtführende im Abfahrtsweltcup in diesem Winter, die Piste hinab, und so schlecht die Sicht auch sein mochte und so durchfurcht die Strecke, die schnelle Frau aus Wien fand die mit Abstand beste Linie. Als sie drunten war, hatte sie jedenfalls die bisherige Bestzeit um über eine Sekunde unterboten, und der Radioreporter vom Österreichischen Rundfunk ließ seine Hörer mit jauchzender Stimme wissen, dass er diesen Lauf auf jeden Fall für goldwürdig halte.

Prognosen wie diese sind gefährlich, gerade in der Abfahrt, zumal schon noch andere Favoritinnen oben standen. Gestern in San Sicario aber ist es gut gegangen für Österreich – und vor allem für Michaela Dorfmeister. Weder die direkt nach ihr startende Landsfrau und Mitfavoritin Renate Götschl, am Ende sichtlich traurige Vierte, noch die ebenfalls hochgewettete Schwedin Anja Pärson, finale Dritte, kamen auch nur annähernd heran an Dorfmeisters Zeit. Weit größeren Schrecken hatte der 32-Jährigen da schon die Schweizerin Martina Schild eingejagt. Die 24-jährige Außenseiterin aus der Schweiz war auf dem ersten Streckenabschnitt sogar schneller unterwegs, im Ziel dann leuchteten 1:56,86 Minuten und Rang zwei auf, womit auch die Frauenabfahrt zumindest kein ganz vorhersehbares Ende gefunden hatte. Dorfmeister freilich war das egal: Da die Amerikanerin Lindsey Kildow das Rennen nur benutzte, um sich ihren fatalen Trainingssturz aus dem Kopf zu fahren (und dabei immer noch respektable Achte wurde), und die vorab schon als Skikönigin von Turin gefeierte Kroatin Janica Kostelic wegen erhöhten Pulses und Unwohlseins abgesagt hatte, stand die Österreicherin als Abfahrts-Olympiasiegerin von Turin fest.

Was für Emotionen das auslösen kann, zeigte Michaela Dorfmeister auf rührende Weise. Abfahrerinnen sind ja hart im Nehmen, aber nun, da es vollbracht war, wurde die 32-Jährige von ihren eigenen Gefühlen überwältigt, ihren Tränen jedenfalls konnte sie keinen Einhalt gebieten. So lange fährt sie nun schon Ski in der Weltspitze, so viel hat sie im Laufe der Jahre schon gewonnen, unter anderem den Gesamtweltcup der Saison 2001/2002 sowie die WM in Super G (2003) und Abfahrt (2001), nur ein Sieg bei Olympia, das Größte also, der fehlte ihr bislang. Vor acht Jahren in Nagano war Dorfmeister Zweite im Super G geworden, von Gold getrennt nur durch eine Hundertstel – und es war eine kleine Tragödie. Seither hetzt sie diesem Sieg nach, und wie sehr sie ihn sich herbeigesehnt hat, wurde in diesem Satz deutlich: „Es war immer mein Traum, Gold bei Olympia zu gewinnen, jetzt ist er in Erfüllung gegangen. Vielleicht war es das, was mich so lange beim Skifahren gehalten hat.“

Die Hatz hat nun ein Ende. Michaela Dorfmeister ist jetzt nicht mehr unvollendet, sondern Olympiasiegerin. Endlich!