Problem Psyche

Vor der heutigen Kür steht Stefan Lindemann vor den Trümmern einer verkorksten Saison und knabbert an des Rätsels Lösung

Positives Denken kann man trainieren, doch das Gefühl des Erfolgs ist durch nichts zu ersetzen

AUS TURIN DORIS HENKEL

Im Moment, als er begriff, dass es auch diesmal schief gehen würde, dachte er dasselbe wie alle, die ihn kennen und mögen: nicht schon wieder! Aber da war es bereits zu spät, und zwei Minuten später stand er vor den Trümmern seiner Hoffnung. Nach zwei massiven Fehlern im olympischen Kurzprogramm fand sich Stefan Lindemann wieder auf Platz 20. Er, der vor knapp zwei Jahren Dritter bei den Weltmeisterschaften in Dortmund geworden war und der sein Ziel danach eindeutig darin gesehen hatte, hier in Turin eine Medaille zu gewinnen.

Nun liegen diese Trümmer zusätzlich auf jenem Berg, der sich in diesem Winter eh schon angesammelt hatte. Und er hat nicht den Hauch einer Ahnung, was da passiert ist und immer noch passiert. Lindemann hat gut trainiert in den vergangenen Wochen und auch zuletzt in Turin. Beim Einlaufen klappte alles, er fühlte sich gut, und er sagt, er sei mit Lust und Laune rausgegangen zum Kurzprogramm. Die Kombination aus dreifachem Flip und dreifachem Toeloop gelang noch prima, doch beim Absprung zum dreifachen Axel geriet er leicht in Rücklage, riss den Sprung konsterniert auf und drehte sich nur einmal.

Mit diesem Fehler war schon alles erledigt, doch er leistete sich noch einen, als er beim Lutz nur mit Mühe einen Sturz verhindern konnte. Was zu einer brutal deutlichen Einschätzung des Preisgerichts führte: In der Teilwertung der technischen Elemente gab es in der gesamten Konkurrenz von 30 Läufern nur vier mit einem schlechteren Wert, und dass er überhaupt auf Platz 20 landete, hatte er den Punkten für die so genannten Komponenten zu verdanken, die in etwa der alten B-Note für den künstlerischen Ausdruck entsprechen.

Was ist bloß los, warum taumelt er diesem Winter von einem Fehler zum nächsten, warum fällt er immer wieder in dieselbe Grube? „Ich weiß es wirklich nicht“, sagt Lindemann. „Wir haben viel gearbeitet, aber wir stehen alle vor einem großen Rätsel. Einem Rätsel, das in dieser Saison einfach keine Antwort findet.“

Der dreifache Axel ist nicht das einzige Problem, aber das auffälligste. Ausgerechnet jener Sprung, den er vor zwei Jahren noch im Schlaf zu beherrschen schien, funktioniert im Wettbewerb seit Monaten nicht mehr. Das sei kein technisches Problem, versichert Lindemann. Darin sei er mit seiner Trainerin Ilona Schindler völlig einig, die sich genau wie er selbst ärgere und wundere und ratlos sei.

Wenn’s an der Technik nicht liegt, auch an der Fitness nicht und am Engagement, dann gibt es nur noch eine Erklärung: Das Problem sitzt nicht in den Beinen, sondern im Kopf. Was Lindemann seit Monaten erlebt, das erinnert sehr an Rainer Schüttlers vergebliche Bemühungen. Der Tennisspieler kommt seit zwei Jahren nicht wieder auf die Beine, weil ihm das Gefühl des Siegens abhanden gekommen ist. Weil in dessen Kopf kaum noch Bilder des Erfolges gespeichert sind, die ihm in den entscheidenden Momenten Zuversicht geben könnten.

Den Bruchteil einer Sekunde gezögert und zu verhalten gespielt, und der Ball geht ins Aus. Das Gleiche erlebt Lindemann: Den Bruchteil einer Sekunde gezögert, und der Axel zerfällt in Einzelteile. Beide arbeiten mit Psychologen, denn positives Denken kann man bekanntlich trainieren, doch das Gefühl des Erfolges ist durch nichts zu ersetzen. Sie hatten es, aber sie haben es verloren.

Stefan Lindemann ist zum Heulen zumute. „Es tut mir wirklich Leid“, sagt er, „dass man so was immer wieder von mir sieht.“ In der Kür heute Abend (19 Uhr) kann er nur noch versuchen, den Schaden zu begrenzen. Dass er ausgerechnet im olympischen Winter aus der Spur geraten ist, macht ihm schwer zu schaffen, gar nicht davon zu reden, welche Chance er in einer lähmend schwachen Konkurrenz verpasst hat. Nimmt man den mit fast astronomisch großem Vorsprung führenden Favoriten Jewgeni Pluschenko und die Vorstellungen von Johnny Weir (USA) und Stéphane Lambiel (Schweiz) aus, dann lässt sich die Konkurrenz bisher am besten mit dem Musiktitel eines tschechischen Läufers beschreiben: drei Viertel Meter unter Wasser. Überflüssig, zu erwähnen: Es handelte sich um einen Blues.

Lindemann will auftauchen; er braucht dringend Luft und Licht. Ob er noch 16. oder 14. werden wird, spielt am Ende keine Rolle. Wertvoll wäre das Erlebnis einer gelungenen Kür. Eines Laufs, der seinen Fähigkeiten entspricht und der neue Hoffnung gibt.