Einmal in zehntausend Jahren

Hamburger Forscher haben die schlimmste mögliche Sturmflut berechnet. Zwar würde sie über die Deiche schwappen, die zurzeit für viel Geld verstärkt werden. Aber dass sie tatsächlich kommt, ist sehr unwahrscheinlich

Die fatale Sturmflut in der Nacht zum 17. Februar 1962 war aus Sicht der Wissenschaft sehr unwahrscheinlich. Mit den heutigen Rechenmodellen und den damals verfügbaren Wetterbeispielen hätte der Warndienst die Wahrscheinlichkeit für eine Sturmflut in diesem Jahr auf 1:1.000 angesetzt, sagt Sylvin Müller-Navarra vom Bundesamt für Seeschifffahrt und Hydrographie (BSH). 315 Menschen kamen damals ums Leben, als die Deiche überspült wurden. Dass ähnliches wieder passiert, ist nach einer aktuellen Studie zehnmal weniger wahrscheinlich – wobei die Forscher von einer viel höheren Flut als damals ausgehen. Grund dafür sind die gewaltigen Deiche und Sperrwerke, die seither errichtet worden sind.

Zu einer Sturmflut kommt es, wenn das durch die Gezeiten bedingte Hochwasser durch Windstau verstärkt wird. Ein Sturm aus nordwestlicher Richtung schiebt das Wasser in der Deutschen Bucht zu einer hohen Welle zusammen und treibt sie auf die Küste zu. 1962 war für Hamburg fatal, dass das Wasser einer ersten Flutwelle noch nicht abgeflossen war, als schon die nächste Flutwelle anrollte.

Wollen sie Sturmfluten vorhersagen, brauchen die Experten des BSH bloß nach nebenan zu den Meteorologen des Deutschen Wetterdienstes (DWD) zu gehen. Beide residieren hoch über dem Hamburger Hafen, in Nachbarschaft der Reeperbahn. Der Wasserstandsvorhersage- und Sturmflutwarndienst speist die Daten in ein Rechenmodell ein und lässt seine Computer rackern. Das Ergebnis wird vom diensthabenden Wissenschaftler auf Stimmigkeit geprüft und gegebenenfalls verbessert.

Um das Rechenergebnis beurteilen zu können, müsse der diensthabende Wissenschaftler Erfahrung mit Fluten haben und wissen, wie die Modelle funktionieren, sagt Müller-Navarra. „Man muss in der Lage sein, aus den Messdaten mit Papier und Bleistift eine Vorhersage hinzukriegen.“

Forschungsprojekte wie die Berechnung der schlimmstmöglichen Sturmflut bilden die Leute vom Warndienst weiter. Zugleich verschaffen sie den Instituten Szenarien, die helfen, künftige Sturmfluten besser einzuschätzen. Die „Modellgestützte Untersuchung von Sturmflutwasserständen mit sehr geringen Eintrittswahrscheinlichkeiten“ (MUSE), deren Abschlussbericht jetzt vorliegt, hat die schlimmste, nach heutigen Verhältnissen physikalisch mögliche Flut ermittelt. Diese extreme Variante der bisher höchsten Sturmflut von 1976 ergibt Wasserstände, die bis 1,50 Meter über dem damaligen liegen. Damit würden auch die heutigen Deiche überspült, wie Holger Poser von der Innenbehörde bestätigt – trotz eines allein in Hamburg rund 500 Millionen Euro teuren Ausbauprogramms, das 2007 abgeschlossen werden soll.

1962 waren die Hamburger Deiche am Fuß zwölf Meter breit und sechs Meter hoch. Künftig werden sie 54 Meter breit und acht bis 8,50 Meter hoch sein. Diesen Höhen liegt ein „Bemessungswasserstand“ von 7,30 Metern zu Grunde. Wird er übertroffen, heulen mindestens zwölf Stunden vorher die Sirenen.

MUSE zufolge wird solch ein Ereignis nur einmal in 10.000 Jahren eintreten, statistisch betrachtet. Aus Sicht Müller-Navarras besteht deshalb keine Notwendigkeit, die Deiche weiter zu erhöhen. Es sei denn, die Bürgerschaft wollte noch viel höheren Aufwand als bisher treiben, um sich gegen den Fall der Fälle abzusichern. Gernot Knödler