BEI DER VERNISSAGE
: Kunst und Kritik

Da ist er ganz allein mit seinen beiden Persönlichkeiten

Der Klassiker am Wochenende: die Vernissage in einer Neuköllner Eckkneipe. Im vorderen Kneipenraum stehen sie dicht gedrängt, das Bier in der einen, die Selbstgedrehte in der anderen Hand. Am Zapfhahn kämpft ein Student mit dem Schaum, seine Kollegin beginnt soeben ihre Schicht und bindet sich die Minischürze um die Hüften.

Hinter dem Kneipenraum in einem kleinen Zimmer hängen in Abstand zueinander zehn Pappjacken unterschiedlicher Form und Farbe an der Wand. Das Licht kommt aus Neonröhren, die mit buntem, hitzebeständigem Plastik überklebt wurden. Der Künstler mitsamt Anhang sitzt angetrunken auf der Bank am Fenster und lacht.

„Ist das schon die Ausstellung?“, fragt eine junge Frau mit Oversize-Weste, Röhrenjeans und knallrotem Lippenstift. „Ich meine, ist das alles? Versteh ich nicht.“ Ihr Freund in roten Chinos, mit Schnauzbart und abgewetztem Herrentäschchen zieht die Stirn in Falten und denkt nach. „Das sind sicher die verschiedenen Lebensphasen von dem Typen.“ „Was meinst du damit?“ „Schau mal. Dort hängt nur eine Jacke, sieht aus wie eine Skaterjacke. Da ist der Mann noch sehr jung und Single. Und dort hängen zwei Jacken, die eine ist heller und sieht nach einer Damenjacke aus. Da hat er seine erste Freundin. Und dort hängen fünf Jacken, allesamt Männerjacken, da ist er wieder Single und hängt mit den Jungs ab.“ – „Und das dort? Die beiden weißen Jacken, die gleich aussehen und irgendwie so ineinander übergehen?“ Schweigen. „Hmm. Da ist er ganz allein mit seinen beiden Persönlichkeiten.“ – „Mit seinen beiden Persönlichkeiten?“ – „Oder er erkennt, dass er nur allein glücklich werden kann. Er hat sich selbst geheiratet.“

„Bravo!“ Der Künstler hat mitgehört und klatscht in die Hände. „Stimmt das etwa?“, fragt der Schnauzbärtige. „Keine Ahnung, aber hört sich super an.“

PEGGY NEIDEL