Hafen im Nebel

Hippen empfiehlt Mit „The Man from London“ hat der ungarische Regisseur Béla Tarr einen Roman von George Simeon verlangsamt – zu sehen ab heute im Kino 46

Béla Tarr gehört zu den kontemplativen Regisseuren, die mehr Wert darauf legen, dass die Zuschauer sich in ihre Bilderwelten versenken

Von Wilfried Hippen

Der Film ist ein Medium der Beschleunigung. Die Montage zerstückelte und raffte schon sehr früh die Zeit, und seitdem ist es ein Bestreben der meisten Filmemacher, möglichst viel möglichst schnell zu erzählen. Doch wie in allen Künsten gibt es auch zu dieser vorherrschenden Strömung Gegenbewegungen, die wohl nicht zufällig meist aus Asien (Hou Hsiao-hsien) und Osteuropa (Andrej Tarkowski) kommen. Auch der Ungar Béla Tarr ist solch ein kontemplativer Regisseur, der mehr Wert darauf legt, dass die Zuschauer sich in seine Bilderwelten versenken. Dafür nimmt er sich Zeit – in vielfacher Bedeutung des Wortes. Es gibt wenig Schnitte in seinen Filmen (nur 39 in „Werckmeister Harmonies“), sodass nicht nur die meisten Handlungen in Echtzeit gezeigt werden, sondern die Sequenzen auch oft länger dauern, als dramaturgisch nötig wäre. Fast zwangsläufig folgt daraus, dass seine Filme für gewöhnlich extreme Überlänge haben. So dauerte „Sátántango“ von 1993 450 Minuten. Schließlich braucht Tarr bei dieser alles andere als kommerziellen Arbeitsweise auch viel Zeit, um die Filme zu machen, und so arbeitete er von 2003 bis 2007 an seinem neusten Film „The Man from London“.

Dabei kann man diesen mit seinen 134 Minuten schon fast einen Kurzfilm nennen. Aber Tarr ist hiermit formell der literarischen Vorlage treu geblieben, denn der Film basiert auf einem Roman von George Simenon aus dem Jahr 1933 und dessen Bücher sind nie länger als 140 Seiten. Außerdem war der belgische Autor, wenn er nicht die vom Publikum gewünschten, aber von ihm selber bald gehassten Mairget-Romane schrieb, nicht so sehr an den Verbrechen selbst und an ihrer Aufklärung interessiert, sondern daran, was sie aus den beteiligten Menschen machen. Und so kann Tarr hier durchaus eine gewisse Werktreue für sich beanspruchen, obwohl „The Man from London“ alles andere als ein Krimi ist.

Der Film beginnt mit einer langen Einstellung, bei der die Kamera gleich mehrere 360-Grad-Drehungen ausführt, denn hier wird gezeigt, was der Stellwerker Maloin von seinem Beobachtungsposten aus beim nächtlichen Anlegemanöver einer Fähre am Kai sieht. Während die Fahrgäste beim Verlassen des Schiffes vom Zoll kontrolliert werden, wirft ein Mann von der anderen Seite des Schiffes aus einen Koffer ans Land. Später streitet der Werfer sich dort mit einem Komplizen, einer von beiden fällt dabei mit dem Koffer ins Wasser, der andere flieht. Maloin fischt den Koffer aus dem Hafenbecken und entdeckt, dass er voller englischer Pfundnoten ist. Er behält das Geld, um seiner Tochter ein besseres Leben zu bieten, aber bald sind ihm sowohl der Verbrecher wie auch ein alter, welterfahrener Kommissar auf der Spur.

Diesen Plot erzählt Tarr eher nebenbei, wobei er schon mit großer Sorgfalt deutlich macht, wer etwa in einer Hafenkneipe welches Gespräch am Nachbartisch mithören kann, und welche Schlüsse der Polizist aus welchen Indizien ziehen kann. Aber wichtiger ist ihm der zunehmende Gewissensdruck des Protagonisten, dessen alltägliches Leben als eine niederdrückende Plage gezeigt wird, der er sich stoisch ergibt.

Die Ikone der Filmavantgarde, Tilda Swinton, hat dabei einen kleinen Auftritt als Maloins keifende Ehefrau, und zwei übereifrige Verkäufer, in deren Laden Maloin für seine Tochter einen Pelz kauft, sorgen als groteske Karikaturen für einen der wenigen Lacher in Tarrs Werken. Doch von diesen kleinen Divertimenti abgesehen taucht Tarr seinen Film virtuos in pessimistisch dunkle Stimmungen, die einen ganz eigenen, schwer zu definierenden Reiz haben.