ESSENSEINLADUNG
: Der Geiselstuhl

Das Sixpack ist alle, ich trete den Rückzug an

Anna hat mich eingeladen. Zum Essen. Sie sind neu in die Stadt gezogen, wir kennen uns noch nicht lange. Ich soll mich nicht vom Treppenhaus abschrecken lassen. Anna und Lutz kommen aus Süddeutschland. Niemand sonst würde sich für ein versifftes Treppenhaus entschuldigen. Das Treppenhaus ist seit 30 Jahren nicht gestrichen, über den vergilbten Ölsockel laufen die Graffiti nach oben. Unser Treppenhaus unterscheidet sich nur unwesentlich, gut, bei uns funktioniert das Licht. Im Dämmerlicht steige ich hoch. Auf halber Treppe steht ein Metallstuhl. Daneben klemmt eine Pappe, darauf steht: „Geisel-Stuhl“. Die nächsten drei Treppenabsätze überlege ich, was „Geisel-Stuhl“ zu bedeuten hat.

Es gibt Spaghetti bolognese à la Lutz. Sehr gut. Dann kommt Nils, wie immer zu spät und mit einem Sixpack, man weiß ja nie. Essen heißt Essen. Vielleicht könnten die Getränke ausgehen. Jedenfalls fällt Nils zur Tür rein und ruft: Habt ihr das gesehen? „Geisel-Stuhl“!

Wir einigen uns darauf, dass der „Geisel-Stuhl“ bereitsteht, falls man in Verlegenheit kommen sollte, eine Geisel zu nehmen. In guter alter RAF-Tradition. Wer will schon seine Wohnung mit einer unliebsamen Geisel teilen, mit einem dieser Banker oder Manager, einem von denen, die das Geld verzockt haben. Eigentlich sollten zur Sicherheit auch ein paar Stricke bereitliegen. Ich überlege insgeheim, ob ich nicht einen Exlover kidnappen sollte, ich wüsste schon wen. Den würde ich dann etwas zuvorkommender behandeln, oder vielleicht auch nicht. Vielleicht würde ich den Stuhl dann doch in meine Wohnung stellen. Ob der klapprige Stuhl auch zwei Personen aushält? Als das Sixpack alle ist, trete ich den Rückzug an. Das Treppenlicht funktioniert doch, ich hatte nur den falschen Schalter betätigt. Und da steht auch schon der Stuhl und dieses Schild: „Gisela’s Stuhl“. SYNKE KÖHLER