JÜRGEN GOTTSCHLICH ÜBER ERDOGAN UND DEN KURDENKONFLIKT
: Friedensprozess in Gefahr

Der türkische Ministerpräsident Tayyip Erdogan gerät weiter in Bedrängnis. Nachdem ihn die landesweiten Demonstrationen der Gezi-Park-Bewegung als undemokratischen Autokraten bloßgestellt haben, steht jetzt auch der Friedensprozess mit den Kurden infrage. Sichtbarster Ausdruck davon ist ein Zwischenfall unweit von Diyarbakir am letzten Freitag, wo ein junger kurdischer Demonstrant von der Gendarmerie erschossen wurde. Der Tod des 18-jährigen Medeni Yildirim ist der erste Zwischenfall dieser Art in diesem Jahr.

Bis jetzt war es vor allem an den Kurden, eine Vorleistung im Friedensprozess zu bringen. Die PKK hatte zugestimmt, ihre bewaffneten Aktionen einzustellen und ihre Guerilleros aus der Türkei zurückzuziehen. Dieser Rückzug ist nach kurdischen Angaben nun fast abgeschlossen, womit die Regierung an der Reihe wäre, ihrerseits zu liefern. Doch jetzt hakt es. Statt zügig Reformen im Parlament einzubringen, spielt Erdogan auf Zeit und behauptet, der Rückzug sei höchstens zu 15 Prozent erfolgt, ergo könne die Regierung noch nichts tun. Anstatt abzuziehen, rüstet das Militär in den kurdischen Gebieten auf.

Falls Erdogan nicht noch vor der parlamentarischen Sommerpause einige Gesetze beschließen lässt, die den kurdischen Erwartungen entsprechen, dürfte es schwer werden, die Kurden weiterhin von seiner Aufrichtigkeit zu überzeugen. Denn wenn im Herbst das Parlament wieder zusammen tritt, steht bereits das Wahljahr 2014 vor der Tür. Nach seinem Verhalten gegenüber den Gezi-Park-Demonstranten war es ohnehin nur schwer vorstellbar, dass Erdogan in der Kurdenfrage zu Vernunft und demokratischen Kompromissen fähig ist. Es scheint, dass er gerade die größte Chance zum Frieden seit Jahrzehnten verspielt.

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