48 Stunden, dann muss Ruhe sein

DROHUNG Miserable Lebensumstände und ein autoritär regierender Präsident haben die Ägypter wieder in Massen auf die Straße getrieben. Nun mischen sich die Streitkräfte ein und fordern eine rasche Konfliktlösung

AUS KAIRO KARIM EL-GAWHARY

Während der Proteste gegen den umstrittenen ägyptischen Präsidenten Mohammed Mursi hat die Armee ein Ultimatum gestellt: Er gebe der Politik 48 Stunden Zeit, die Forderungen der Bevölkerung zu erfüllen, erklärte Generalstabschef Abdel Fattah al-Sisi am Montag. Sollte das nicht gelingen, werde die Armee einen eigenen Ausweg aus der Krise vorschlagen.

Die Streitkräfte hätten jedoch nicht die Absicht, sich in die Politik oder die Regierungstätigkeit einzumischen, versicherte al-Sisi. Die landesweiten Massenproteste vom Sonntag, bei denen Demonstranten den Rücktritt Mursis verlangt hatten, bezeichnete er als „glorreich“.

Zuvor hatten die Organisatoren der Großdemonstrationen Mursi ein Ultimatum gestellt – für seinen Abgang. Demnach sollte er bis Dienstagnachmittag um 17.00 Uhr sein Amt niederlegen. Das Militär und die Polizei hatten sie ausdrücklich aufgerufen, die Demonstranten zu unterstützen.

Am Wochenende waren Millionen Ägypter auf die Straßen gegangen. Ein Foto, das am Montag im Netz kursierte, fasst die neue Qualität der Proteste am besten zusammen: Mehrere Familien sitzen auf Sofas, die sie auf die Straße gestellt haben. Eine Frau hat sich mit einer roten Karte für den Präsidenten niedergelassen. Im Hintergrund prangt ein Banner mit der Aufschrift: „Die Sofa-Partei gegen die Herrschaft der Muslimbruderschaft“.

Die Sofa-Partei ist ein fester Begriff für alle, die die Revolution bisher nur von ihren Fernsehsesseln betrachtet haben – die „schweigende Mehrheit“. Es war am Wochenende vor allem die Sofa-Partei, die die Gegner Mursis auf den Demonstrationen im ganzen Land auf Millionen hat anschwellen lassen. Die zentrale Demonstration auf dem Tahrirplatz war noch massiver als die Proteste beim Sturz Mubaraks. Auf den Nilbrücken warteten Demonstranten, die nicht mehr auf den Platz konnten. Die gesamte Innenstadt verwandelte sich in einen einzigen Protest gegen Mursi.

Es mangelt an Strom

Vor allem die Verschlechterung der Lebensumstände treibt viele auf die Straßen: Bis zu vier Stunden mussten die Menschen in der Woche vor den jüngsten Massenprotesten in Kairo für Benzin anstehen. Mehrmals täglich kommt es zu Stromausfällen, weil die staatlichen E-Werke nicht mehr genug Strom produzieren. Die steigende Arbeitslosigkeit, anziehende Preise und auch eine bisher noch nie dagewesene Kriminalitätsrate hat die Menschen mobilisiert.

„So geht es einfach nicht weiter, Mursi hat das Land innerhalb eines Jahres zugrundegerichtet, jetzt wird er des Platzes verwiesen“, sagt Farid Mansour, ein Beamter, der auf dem Tahrirplatz die ganze Nacht ausgeharrt hat.

In der Innenstadt findet sich kaum ein Gebäude, auf dessen Balkon sich nicht durchgekreuzte Mursi-Poster finden. Bei all dem Auflauf sind in der ganzen Innenstadt bislang keine Sicherheitskräfte auszumachen. Die Polizei hat sich aus dem Zentrum vollkommen zurückgezogen. Trotz aller Unkenrufe, die für den 30. Juni bei den landesweiten Protesten ein Blutbad angekündigt hatten, blieb es auf den Großdemonstrationen bisher weitgehend friedlich. Ein großer Schlagabtausch mit den Anhängern der Muslimbrüder, die sich am Sonntag zu einer Gegendemonstration im Osten Kairos versammelt hatten, fand nicht statt.

Trotzdem kamen den Angaben des Gesundheitsministeriums zufolge insgesamt 16 Menschen im Zusammenhang mit den jüngsten Protesten ums Leben – die Hälfte davon, als eine Gruppe Jugendlicher in der Nacht zu Montag versuchte, die Zentrale der Muslimbruderschaft in Kairo mit Molotowcocktails und Steinen zu stürmen und vom Inneren des Gebäudes auf sie geschossen wurde.

Am Montagmittag drangen die Jugendlichen in das Gebäude ein, nachdem es zuvor verlassen worden war. Anschließend trugen Angreifer und Menschen aus der Nachbarschaft bis zum letzten Stromkabel alles aus dem zum Teil ausgebrannten sechsstöckigen Gebäude.

Viele der Tamarrud-Koordinatoren, der „Rebellen-Bewegung“, die den Protest am 30. Juni organisiert hatte, verurteilten den Angriff auf das Gebäude. „Das liefert genau die Bilder, die die Muslimbrüder brauchen, um sich als Opfer darzustellen. Die Muslimbrüder haben viel mehr Angst, wenn ihnen die Menschen auf friedlichen Massendemonstrationen das Vertrauen entziehen“, erklärte Ahmed Kamel vom Koordinationskomitee der 30.-Juni-Front.

Mursi schweigt

Vonseiten der Muslimbrüder weigert man sich offensichtlich immer noch, die wachsende Opposition wahrzunehmen. Auf der Webseite der Freiheits- und Gerechtigkeitspartei der Muslimbruderschaft heißt es, die Anti-Mursi-Demonstrationen seien eine Fata Morgana. Lediglich ein paar Autos seien in Kairo im Kreis gefahren und hätten revolutionäre Lieder gespielt, um den Menschen ein revolutionäres Moment im Land vorzugaukeln.

Von Präsident Mursi selbst ist indes nichts zu vernehmen. Dafür bröckelt seine Regierung: Mindestens vier Minister haben am Montag ihren Rücktritt eingereicht. Premierminister Hescham Kandil hat ein Treffen mit den Ministern einberufen, um ihre Entscheidung zu diskutieren.

Kommentatoren, die der Opposition nahestehen, betonen, dass die Opposition zum ersten Mal seit dem Sturz Mubaraks im Februar 2011 in einem Ziel geeint sei. „Das ist nicht die Zeit für alte Rechnungen, sondern die Gelegenheit, aus der Vergangenheit zu lernen und über den Differenzen zu stehen“, kommentiert die Oppositionsaktivistin Sonja Farid. Bei Redaktionsschluss am späten Montagnachmittag, als die Armee ihre Drohung verkündete, hatten die Menschen bereits begonnen, sich wieder auf dem Tahrirplatz zu versammeln.