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: Ein dreizehnjähriger Junge in den Wirren des Dreißigjährigen Kriegs: Wolfram Eickes Roman „Das silberne Segel“

Etwa sieben Millionen Menschen starben im Dreißigjährigen Krieg, die Bevölkerung Deutschlands sank von siebzehn auf zehn Millionen. Das Land war ausgeblutet, was in diesem Fall wörtlich zu nehmen ist, denn die Grausamkeiten waren unbeschreiblich – für jene Zeit so unerzählbar wie im 20. Jahrhundert der Holocaust. Der Dreißigjährige Krieg als Schauplatz für ein Kinderbuch, geht das überhaupt? Es werden ja auch keine Abenteuerromane über den Holocaust und das Gemetzel des Zweiten Weltkriegs geschrieben.

Wolfram Eicke lässt seinen neuen Roman trotzdem im Dreißigjährigen Krieg spielen. Er redet von Beginn an nicht lange drum herum: „Im Traum hört Randolf Schreie. Und Schüsse“, lautet der erste Satz. Schnell wird Randolf klar, dass das kein Traum, sondern Wirklichkeit ist. Holz splittert, Glas klirrt, Schritte poltern die Treppe hoch, der Vater brüllt: „Randolf! Rette dich!“ Und Randolf rettet sich. Er flieht in eine verborgene Waldhütte – mit einem Schlag ist er zum Waisen geworden.

Wolfram Eicke ist ein begnadeter Erzähler – am bekanntesten ist wohl sein Kindermusical „Der kleine Tag“. Wie mag Randolf sich fühlen? Was mag er denken? Ein einsamer Junge, der sich allein durch die Wirren des Dreißigjährigen Kriegs schlägt und sich auf die Suche nach dem silbernen Segel macht. Dieses rätselhafte Segel soll den Menschen die Angst nehmen. „Ist einer mutig genug? Glaubt einer an den Traum? Macht sich einer auf den Weg? Unsere Herzen, dunkel vor Angst, ersehnen den Schimmer des silbernen Segels.“ Es ist ein Versprechen auf Heilung, auf Vertrauen, auf Frieden. Eine Aufgabe, viel zu groß für einen Dreizehnjährigen. Trotzdem macht Randolf sich auf den Weg. Ein reiches, trauriges Mädchen namens Lilli spielt dabei eine Rolle. Sowie der Pirat Eisenfuß, der sich einst selber den Fuß abhackte, um sich aus den Gefängnisketten zu befreien. Auch der gefürchtete Eisenfuß hat von der Legende des Segels gehört, aber er glaubt, dass dort ein unfassbarer Silberschatz lagert. Natürlich will er den heben. Eisenfuß gegen Randolf – sie werden sich beim Showdown gegenüberstehen.

Was macht der Krieg aus den Menschen? Warum werden sie überhaupt so böse? Und wie kann man sich selber davor retten, vor lauter Elend ebenfalls grausam zu werden? Randolf wird bestohlen und unschuldig des Diebstahls bezichtigt. Er wird beschimpft und verjagt, weil er wie ein Lump aussieht. Er muss zusehen, wie Soldaten sich den Bauch voll schlagen, während er am Verhungern ist. Randolf ist misstrauisch, und er muss sich verteidigen. Trotzdem stiehlt er nicht, plündert nicht, mordet nicht. Ist es der Gedanke an seine liebevollen Eltern, der ihn davon abhält? Ist es die Vorstellung des silbernen Segels, die ihn davor bewahrt, selbst ein Verbrecher zu werden? Oder eine innere Kraft? Aber wo kommt die her? Wolfram Eicke ist ein fesselnder Erzähler. Eine Nacht allein im Wald, ein Essen im Wirtshaus unter Fremden, barfuß immer den Fluss entlang. Wie fühlt sich das an, wenn einer keine Schuhe hat und allein als Schiffsjunge an Bord eines fremden Schiffes geht? Oder das Gefühl, nach einem Regenguss im Warmen zu sitzen und schlafen zu können. Eine warme Suppe. Ein neues Hemd.

Und dann, das Schönste überhaupt: eine Freundschaft. Erst mit dem verwöhnten Mädchen, das er vor dem Ertrinken rettet – und deren Vater ihm nicht einmal als Dank trockene Kleidung gibt. Später mit einem alten Schiffsarzt, von dem er erfährt, dass auch Piraten eine Seele haben. Die Seele der Piraten und Soldaten – nebenher, während die Spannung zum Ende hin immer weiter steigt, wird auch dieser Frage nachgegangen. Trotzdem ist „Das silberne Segel“ ein richtiges Abenteuerbuch geworden. Eine alte Geschichte, an die Wolfram Eicke die Fragen von heute stellt. ANGELIKA OHLAND

Wolfram Eicke: „Das silberne Segel“. Rowohlt Taschenbuch Verlag, Reinbek, 2005, 256 Seiten, 12,90 Euro