Geister im Kampf

Nach zehn Jahren Krieg ist Kongos Osten voller Massengräber. Aufarbeitung drängt. Doch in Kivu hat ein politisch verzerrter Versuch, die Toten zur Sprache zu bringen, die Region zurück in den Krieg gestoßen

AUS RUTSHURU DOMINIC JOHNSON

Das Beweismaterial liegt am Fuße eines grasüberwucherten Abhangs, unterhalb einer Spielwiese, wo Schulkinder singen. „Hier“, sagt Kapitän Katanga Kabeya und zeigt stolz auf eine Mulde. „Hier liegen dreitausend Tote.“

Zu sehen sind ein paar Knochen, übersät mit Ziegenmist und umgeben von kniehohem Gras. Die Stätte hat keinen Meter Durchmesser. Aber dies ist, so sagt es jedenfalls die hiesige Fünfte Brigade von Kongos neuer Regierungsarmee FARDC, der Beginn des Beweises dafür, was Menschenrechtler immer wieder in Zeugenaussagen dokumentiert haben, aber kaum je belegen konnten: Dass 1996 hier grausame Massaker stattfanden, verübt von Ruandas Armee und den von ihr unterstützten Rebellen der AFDL (Allianz Demokratischer Kräfte zur Befreiung Kongo/Ex-Zaires) unter Laurent-Désiré Kabila, dessen Sohn Joseph heute den Kongo regiert.

Mit dem Fund dieses Massengrabs am Rande der Stadt Rutshuru begann im Oktober 2005 Kongos Vergangenheitsbewältigung. Wenigstens glaubten das Menschenrechtler und Journalisten. Sie pilgerten an die Stätte des Grauens. „Wir haben sechsunddreißig Massengräber“, trumpft Brigadekommandant Shi Kasikela auf, während er einen blauen Kringel als Unterschrift auf die offizielle Besichtigungsgenehmigung malt.

Das ist zwei Monate her. Heute sind Oberst Kasikela und Kapitän Kabeya fort. Die Fünfte Brigade der FARDC ist vor neuen Angreifern geflohen. Rutshuru ist wieder umkämpft. Die Massengräber sind, so vermuten Experten, vernichtet. So schnell kann Vergangenheitsbewältigung schief gehen.

Rutshuru ist eine leidgeprüfte Region Ostkongos, eingezwängt zwischen dem menschenleeren Territorium des Virunga-Nationalparks und den unwegsamen Vulkanen an der Grenze zu Uganda und Ruanda. Die Mehrheit der Bevölkerung gehört zur ruandischsprachigen Ethnie der Banyarwanda, aber es leben hier auch Nande, die weiter nördlich die Mehrheit bilden. Bewaffnete Konflikte zwischen Nord-Kivus Ethnien gab es schon Anfang der Neunziger Jahre. 1994 kamen Hutu-Milizen aus Ruanda dazu, die dort eben achthunderttausend Tutsi umgebracht hatten und dann selbst vor Tutsi-Kämpfern fliehen mussten. Das gab den kongolesischen Hutu die Übermacht. Sie begannen ethnische Säuberung. Im Gegenzug versuchten die Milizen anderer Völker, Tutsi und Hutu komplett zu verjagen. Im Herbst 1996 schließlich marschierte Ruanda selber ein, um die ruandischen Hutu-Milizen zu vernichten. Nord-Kivus Hutu gerieten zwischen die Fronten.

Man muss die wirre Geschichte nicht verstehen, um die Folgen zu begreifen. Wo sonst auf der Welt könnte ein Fahrer, der an einer Kreuzung den Weg sucht, sich aus dem Fenster lehnen und „Wo geht‘s denn hier zum Massengrab?“ rufen – und sofort von Passanten eine Antwort bekommen? Jeder in Rutshuru weiß, wo die Toten von 1996 liegen.

“Die Leute flohen erst vor den Kämpfen in den Busch“, lautet die typische Geschichte, die man erzählt bekommt, wenn man in Rutshuru nach 1996 fragt. „Nach ein paar Tagen kamen sie zurück. Die AFDL berief Versammlungen ein, um neue Ortsverwaltungen zu wählen. Wer kam, wurde erschossen. Die Bevölkerung musste dann die Leichen beisetzen, man konnte sie ja nicht alle rumliegen lassen.“ Oft waren unter den Tätern Tutsi, die kurz zuvor vertrieben worden waren und sich jetzt rächten.

Heute herrscht im Kongo offiziell Frieden. Alle früheren Kriegsparteien sollen gemeinsam in die neue Nationalarmee FARDC gehen. Aber in Nord-Kivu wird bis heute gekämpft. Die verschiedenen Milizen haben sich nicht demobilisiert. Dennoch nahm im Sommer 2005 die „integrierte“ Fünfte FARDC-Brigade Quartier in Rutshuru. Ihr oberster Kommandant Shi Kasikela ist ein Nande, früher Milizionär, davor Coltan-Zwischenhändler. Sein Massengrabs-Zuständiger, Kapitän Kabeya, ist ein ehemaliger Soldat der zairischen Armee, der zuletzt 1996 hier war und vor den anrückenden Kabila-Truppen und ruandischen Soldaten die Flucht ergriff. 2005 also kehrt er nach Rutshuru zurück, sozusagen als später Sieger, zusammen mit anderen früheren Kameraden. Sie landen in einer Kriegszone. Und kaum sind sie da, finden sie lauter Massengräber, die ihre früheren Gegner angerichtet haben sollen.

Es gab auch ruandischstämmige Tutsi-Soldaten in der Fünften Brigade, als sie nach Rutshuru kam. Aber sie gingen schnell wieder, im Streit. Sie zogen als Deserteure in die Masisi-Berge. Die „integrierte“ Fünfte Brigade wird zur desintegrierten Brigade. Die Fronten von 1996 stehen wieder. Umso eifriger sammelt Kapitän Kabeya Informationen. „Die Bevölkerung sagt uns, wo die Toten liegen. Man gibt ihnen einen aus und sie erzählen die Geschichte.“

Dass Kabeya aus den dreihundert Toten, die man ursprünglich in der Mulde hinter der Wiese vermutete, schon dreitausend gemacht hat, fällt ihm nicht weiter auf, während er in Riesenschritten von einem Massakerort zum nächsten eilt: Hier die Latrine des ehemaligen Krankenhauses, wo lauter Schädel liegen sollen. Dort eine Grube zwischen zwei Hütten, in der die tote Familie des jungen Mannes liegt, der wie auf Bestellung aus der Hütte kommt und aufsagt: „Das waren die Ruander.“

Was da wirklich liegt, ist nicht festzustellen. Forensische Untersuchungen gibt es nicht, neutrale Ermittlungen auch nicht. Geflohene Bewohner der Region bestätigen dennoch die Massaker. Keiner wundert sich, dass Gräber gefunden werden. Überall in Nord-Kivu liegen Massakeropfer aus den verschiedenen Kriegen begraben – Opfer aller Seiten.

Wenn da eine bewaffnete Fraktion plötzlich zu graben anfängt, kann das schlimme Folgen haben. Wim Verdeken, Menschenrechtsbeauftragter der UN- Mission (Monuc), konstatiert im Dezember 2005 eine Zunahme ethnischer Spannungen in Rutshuru. „Im gegenwärtigen Klima werden solche Informationen immer politisch benutzt“, meint er. „Nicht für einen guten Zweck.“ Schließlich sollen dieses Jahr Wahlen im Kongo stattfinden. Die Spannung geht im Distrikt Rutshuru bis nach ganz oben, behaupten manche: die Militärs finden tagsüber Massengräber, der Zivilchef des Distrikts – ein Tutsi – lässt sie nachts wieder verschwinden. Und die Soldaten fühlen sich obenauf, als Sieger, die den “neuen Kongo“ in den wilden Osten bringen und ein klares Feindbild haben: “die Ruander“. Man tut besser, der Fünften Brigade nicht nach der Mittagspause zu begegnen. Da ist sie betrunken oder bekifft und sehr aggressiv.

In der achtzig Kilometer entfernten Provinzhauptstadt Goma tut Militärstaatsanwalt Bwa Mulundi so, als ginge es um ernsthafte Aufklärung. Er will die Massakerorte in Rutshuru absperren, ein Zeugenschutzprogramm einführen, die Fälle zur Anklage bringen. Aber er hat nicht einmal ein Auto, um nach Rutshuru zu fahren. Die parteiische Vergangenheitsbewältigung bleibt sich selbst überlassen.

Im Januar 2006 schließlich entlädt sich die Spannung. Die ruandischstämmigen Deserteure der Fünften Brigade kommen aus den Bergen hinunter nach Rutshuru. Ihre Kollegen unter Oberst Kasikela fliehen kampflos nach Norden ins Nande-Gebiet. Die neuen Rebellen besetzen einen Ort nach dem anderen. Am 25. Januar melden sie sich schriftlich zu Wort. Sie nennen sich „Volksinterventionsbrigade“ (BIP) und geben an, einen Völkermord an den Banyarwanda in Nord-Kivu verhindern zu wollen. „Vorfälle wie die Öffnung von Massengräbern und das zur Schau stellen menschlicher Überreste favorisieren nicht das friedliche und harmonische Zusammenleben der Bevölkerung,“ erklären sie.

Nun spukt der Krieg von 1996 also nicht mehr nur in den Köpfen, sondern auch auf dem Schlachtfeld. Es kommt zu Konfrontationen zwischen Hutu- und Nande-Zivilisten. Regierungssoldaten plündern, Rebellen vergewaltigen. Es ist alles wie früher. Die Regierung geht auf die wichtigste BIP-Forderung ein: Sie zieht die Fünfte Brigade aus Rutshuru ab und ersetzt sie durch neue Soldaten. Schwere Kämpfe brechen aus. Zehntausende von Menschen fliehen.

Nord-Kivus Provinzgouverneur Eugène Serufuli hat kein Interesse daran, die Geschichte von 1996 aufzuwärmen. Selbst Hutu, war er damals Chefanästhesist im städtischen Krankenhaus von Goma. Während des Krieges wurde er zum politischen Führer der Hutu in Nord-Kivu und führte sie in ein Bündnis mit Ruanda. Jede Kriegspartei in Ostkongo hat irgendwann gemeinsame Sache mit Ruanda gemacht – und Ruanda hat sein Eingreifen im Ostkongo immer mit dem eigenen Überleben gerechtfertigt. Vergangenheitsbewältigung in Nord-Kivu funktioniert nicht mit Schwarz-Weiß-Malerei. Sie kann nur funktionieren, wenn sie ethnische Versöhnung und eine Verständigung zwischen Ruanda und Kongo fördert. „Es gibt keine Heiligen auf der einen Seite und Teufel auf der anderen“, stellt Serufuli in einem Interview klar.

Aber Täter und Opfer – die gibt es. Als Ende 2005 in ganz Kongo eine Volksabstimmung über eine neue Verfassung stattfand, staunten Wahlbeobachter an der Straße, die aus Rutshuru hinaus Richtung Uganda führt: In manchen Dörfern leben fast nur noch Witwen. Wenn man diese Straße entlangfährt und anhält, fällt als Erstes das Schweigen auf. Keine Kinder scharen sich um das Auto. Und niemand wundert sich, wenn man nach den Toten fragt.

Das Dorf Kiseguro liegt im Staub inmitten von grünen, fruchtbaren Feldern, von denen nur ein kleiner Teil bebaut wird. Einfache Hütten ducken sich aneinander. In seinem abgedunkelten Vorzimmer erzählt der katholische Pastor Rwandukure Bakinahe von 1996. „Sie haben die Leute beim Namen gerufen. Wenn man Kambale hieß (der geläufigste Nande-Name), konnte man gehen. Wenn man einen ruandischen Namen hatte, wurde man getötet. Die Leichen landeten in einem Massengrab im Nationalpark. Die Parkwächter haben 2000 alle Knochen verbrannt.“ Bakinahes Gemeinde ist heute nur noch halb so groß wie vor dem Krieg, sagt er. Aber sie enthält Gläubige aller Ethnien.

Man kann die Geschichte des Pastors genauso wenig nachprüfen wie die der Fünften Brigade. Aber während Kapitän Kabeya in Rutshuru schlitzohrig und selbstherrlich auftrat, wie ein gerissener Touristenführer, spricht Pastor Bakinahe leise, nachdenklich und eindringlich, so als lege er sich selber gegenüber Beichte ab. Wirkliche Vergangenheitsbewältigung im Kongo beginnt im Stillen, in der Erinnerung. Nicht vor Publikum, mit erhobenem Zeigefinger.

“Es ist das erste Mal, dass ich darüber spreche“, sagt der Pastor, während ein schmaler Lichtstreifen auf den Tisch vor seinem Sofa fällt. „Wir haben so viele Leute verloren, aber bisher konnte man darüber nicht reden. Auch jetzt reden wir höchstens im Zwiegespräch über solche Dinge, nicht in größeren Treffen. Vielleicht eines Tages, wenn wir eine gute Regierung haben und es Menschenrechte gibt – dann können wir diskutieren, Zeugnis ablegen und den Kindern erzählen.“ Und draußen sind nur die Vögel zu hören, während stille Frauen hinter den Hütten die Zutaten für das Abendessen zusammensuchen.

DOMINIC JOHNSON ist Afrika-Redakteur der taz und bereiste im Dezember 2005 Nord-Kivu