Am Schweigen erstickt

Ein Mann bringt sich öffentlich um. Auf dem Kirchentag 1969. Sein letzter Gruß gilt „den Kameraden der SS“. Es sollte ein Fanal sein. Nur wofür? Ein Vorabdruck aus Ute Scheubs Buch „Das falsche Leben“

von UTE SCHEUB

„Der Tod trat auf dem Weg zum Robert-Bosch-Krankenhaus ein“, notierte Günter Grass in seinem Buch „Aus dem Tagebuch einer Schnecke“ über einen 56-jährigen Apotheker, der sich am 19. Juli 1969 mit Blausäure vergiftet hatte. Öffentlich. Auf dem Stuttgarter Kirchentag. Direkt vor dem Dichter und seinem etwa zweitausend Menschen zählenden Publikum.

Grass hatte soeben aus seinem noch unveröffentlichten Roman „Örtlich betäubt“ vorgetragen. Er hatte vorgelesen, wie der Schüler Scherbaum aus Protest gegen den Vietnamkrieg seinen Dackel verbrennen will. Öffentlich. Auf dem Berliner Kurfürstendamm. Er hatte vor ritualisiertem Protest gewarnt, er hatte gemahnt, auch Jan Palach, der sich angesichts der sowjetischen Invasion im Jahre 1968 selbst verbrannt hatte, öffentlich, auf dem Prager Wenzelsplatz, sei kein Vorbild. Und dann trat dieser Mann vor das Saalmikrofon, redete wirr, stammelte herum, verhedderte sich in seinen Satzfetzen. Menschen wie er, die vor 1945 an Deutschlands Größe geglaubt hätten, würden nun als „Verbrecher“ gebrandmarkt. „Die“ Gesellschaft habe versagt, „die“ Kirche auch. Deshalb wolle er nun ein Zeichen des Protestes setzen. Sein letzter Satz: „Ich provoziere jetzt und grüße meine Kameraden von der SS.“ Das Publikum, vorwiegend junge Leute aus der Studentenbewegung, buhte. Der Mann setzte ein Glasfläschchen an die Lippen und trank es aus. „Das war Zyankali, mein Fräulein“, sagte er zu einer jungen Frau neben ihm, bevor er zusammenbrach. Die meisten im Saal glaubten an einen Schwächeanfall, jemand alarmierte die Sanitäter, die den Mann auf einer Bahre hinaustrugen.

Grass listet in seinem Buch die Zeitungsüberschriften des nächsten Tages auf: „ ‚Das letzte Argument: Selbstmord‘ – ‚Ein Einsamer griff nach Zyankali‘ – ‚Keiner nahm den Tod wahr‘ – ‚Ein Selbstmord überschattete den Kirchentag‘. In der Wochenzeitung Christ und Welt schrieb die Journalistin Maria Stein unter der Überschrift: ‚Ritualisierter Protest‘.“

Der Mann schleicht als Nebenfigur durch Grass’ Tagebuch-Roman, taucht immer wieder auf, benimmt sich daneben, macht unpassende Bemerkungen, stört und irritiert den Autor. Sein Name: Manfred Augst. Augst wie Angst. Er war mein Vater.

Die Vergangenheit hatte sich auf dem Dachboden abgesetzt, und ich habe sie dort gefunden. Ich bin die Holzstufen hochgeknarrt, über die ich schon als Kind gelaufen war, vor vierzig Jahren und mehr. Jetzt bin ich nicht mehr so leichtfüßig, aber die Tür zum Dachboden ist immer noch die Geheimnistür meiner Kindheit. Auch damals hat sie wie ein Gespenst aufgeheult, wenn ich sie geöffnet habe. Ich will aber keine Gespenster suchen, sondern nur eine kleine Vase, meine Lieblingsvase aus grünem Glas, in die ich als Kind Margeritensträuße gestopft hatte, so viele Blumen wie möglich, bis sie umkippte und das Wasser floss und die Mutter schimpfte.

Ich versuche, eine dieser Pappkisten zu überwinden; die mir den Weg versperren. Die Pappe ist alt und brüchig, sie quillt auseinander, die Kiste hat längst jede ordentliche Kistenform verloren, und als ich sie zur Seite ziehe, reißt die Seitenwand, Briefe fallen heraus, halb zerfressene Briefumschläge, verstaubtes, vergilbtes, sich brüchig auflösendes Papier.

Ich fluche. Wie soll ich diese Zettelwirtschaft je wieder in die Kiste zurückbekommen? Ich bücke mich, um die Papierflut einzudämmen, da fällt mein Blick auf einen gelblichen Briefumschlag, ohne Adresse, ohne Briefmarke, aber vorn und hinten voll gekrakelt. Offensichtlich von meinem Vater, ich kenne diese Kampfschrift, Krampfschrift, die sich nicht darum kümmerte, ob jemand sie lesen konnte, die kaum mehr Verständigungsmittel war, nur sinnlose, wirre Bewegungen eines Autisten.

„Jetzt könnt Ihr wahrscheinlich im Haus bleiben“, lese ich, „wenigstens noch länger Der Bausparvertrag ist auch gesichert So kann ich diesen Schritt verantworten. Was ich Euch darüber hinaus hätte sein können, bin ich auch so. Meine Hoffnung ist sogar, auf diese Weise Besinnung zu sein für Euch alle.“

Ein Abschiedsbrief meines Vaters. Ich kann es nicht glauben. 35 Jahre nach seinem Selbstmord finde ich ein Abschiedsschreiben. Und was für eins. Wenn der Bausparvertrag gesichert ist, dann ist einem Schwaben der Selbstmord erlaubt?

Ich horche in mein Inneres. Bin ich schockiert? Beginne ich zu zittern? Zittern mir wenigstens die Finger? Ich zittere nicht. Ich stöhne nicht. Ich muss mich nicht setzen. Mein Herz schlägt seinen normalen Takt. In mir herrscht eine Ruhe, die mir selbst unheimlich ist. Vielleicht ist es so etwas wie eine örtliche Betäubung, ausgelöst durch einen Kälteschock, den ich vor 35 Jahren erfahren habe. Warum sollte ich mich auch aufregen? Dass er sich selbst gemordet hat, das weiß ich ja nun seit langem. Dass er zumindest einen Abschiedsbrief hinterlassen hat, weiß ich fast ebenso lange. Ich kenne auch einen der Sätze daraus, meine Mutter hatte ihn zitiert, „Was ich tue, das darf ich“. Ich habe nicht gewusst, dass mein Vater mehrere solcher Schreiben hinterlassen hat.

Ich weiß noch, ich war am Nachmittag des 19. Juli 1969 nicht zu Hause, als die Stuttgarter Polizei meiner Mutter telefonisch die Todesnachricht überbrachte. Es war ein siedend heißer Tag, durch den blauen Himmel robbten Gewitterwolken heran, und ich tummelte mich, so wie fast jeden Tag im Sommer, im Tübinger Freibad. Ich war dreizehn, ein Kind noch, dürr und busenlos, auch wenn ich meine Kinderzöpfe trotzig abgeschnitten hatte und die Haare nun auf meinen Schultern spüren konnte. In meinem hellgrünen Badeanzug übte ich den Kopfsprung vom Einmeterbrett, schwamm, tauchte, hüpfte, ruhte mich auf meinem Handtuch aus. Und trottete irgendwann nach Hause.

Dort lag meine Mutter quer über dem Ehebett. Sie hatte nur ein schwarzes Unterkleid an. Die Fensterläden waren geschlossen, der gleißende Sonnentag sollte draußen bleiben. Ich erschrak: Sie sah aus wie eine Tote. Sie nahm meine Hand. „Ich muss dir etwas Furchtbares sagen.“ Sie rang mit der Fassung. „Dein Vater ist tot.“

Mein? Vater? Tot? Das Zimmer wurde groß, dann wieder klein, irgendwie bewegte es sich in seinen Achsen.

„Er ist auf dem Stuttgarter Kirchentag gestorben.“ Ich wollte gar nicht mehr wissen. Ich war damit beschäftigt, mich auf den Beinen zu halten.

„Ich weiß, das ist furchtbar für dich“, sagte meine Mutter. Furchtbar? Es war wie ein Traum. Solange ich denken konnte, hatte ich mir das gewünscht, und nun war es in Erfüllung gegangen! Ein Lebenstraum erfüllt! Er war weg! Mein Vater, den ich so gehasst hatte, war endlich weg! Totototototototot!

Halt!, schrie es in meinem Inneren. Trauere! Dein Vater ist tot, trauere! Das, was ich wirklich empfand, die Schockfreude, den Freudenschock, das durfte um Gottes willen nicht über die Lippen. Ich bewegte den Mund. Nichts kam. Ich wollte reden, schon um meine Mutter zu beruhigen, aber meine Zunge hatte alles verlernt, was sie je gekonnt hatte. Ich taumelte aus dem Zimmer. Im Flur lehnte ich mich an einen Türpfosten und versuchte zu begreifen. Der Vater ist tot. Der Vater ist tot. Der Vater ist tot. Ich schlug die Stirn gegen den Pfosten. Weine endlich, du Rabentochter! Das gehört sich so! Ich quetschte und quetschte, bis eine winzige Träne kam. Mit großer Geste wischte ich sie ab. „Hör doch auf damit“, herrschte mich mein mittlerer Bruder an. „Man sieht doch, dass deine Tränen nicht echt sind.“ Ich schämte mich viele hundert Meter hinab in die Hölle.

Irgendwann stand meine Mutter auf und zog sich an. Sie musste die Leiche ihres Mannes identifizieren. Eine Freundin fuhr sie ins Robert-Bosch-Krankenhaus nach Stuttgart, eine ihrer Schwestern begleitete sie, die andere fuhr nach Tübingen und kümmerte sich um uns Kinder. Meine Tante brachte mich später ins Bett. „Ich muss dir noch etwas sagen“, meinte sie, als sie die Bettdecke über mir zurechtzog. „Dein Vater ist nicht an einem Herzanfall oder etwas Ähnlichem gestorben. Er hat bei seinem Tod nachgeholfen. Er hat sich selbst umgebracht.“ Aha. Ich nickte. Sprechen konnte ich immer noch nicht. Und schlafen auch nicht. Ich hatte Herzrasen.

Ich drehe den Briefumschlag um. Die schwer zu lesenden, eckigen Lettern auf der Rückseite waren offenbar seiner eigenen Familie zugedacht: „Lieber Vater, liebe Geschwister, Ich weiß was ich tue und verantworte Dem Staat ist nicht zu helfen ohne Erneuerung von innen Die Kirche, so wie sie ist, ist nicht dazu fähig, obwohl sie es sollte. Nachdem mir persönliche Befriedigung versagt ist, bleibt mir nichts anderes übrig als das Überpersönliche, als da etwas zu erreichen. Wie könnte man das anders, als durch einen Einsatz der freiwillig ist und auch freiwillig aussieht, und das geht jetzt noch am besten. Ich will beweisen, wie es einem heute geht, wenn man seinem Inneren folgt, und zeigen, wie es sein müsste, wenn Christentum und Menschlichkeit echt wären. Einander richtig antworten, doch Wort und Tat in die Antwort sich selber hineingeben, mit Haut und Haar mit Sex und Seele Das ist mein Rezept“.

Mit Haut und Haar, mit Sex und Seele – langsam verspüre ich doch das Bedürfnis, mich niederzulassen. Ein Selbstmord „mit Sex und Seele“ – mein Vater hat schon immer das Talent gehabt, die Dinge so unpassend wie möglich auszudrücken. Genau genommen konnte er sich überhaupt nicht ausdrücken. Ich merke, dass sich irgendetwas in meinem Inneren verhärtet. „Vater“, flüstere ich in der Düsternis des Dachbodens, „nicht mal einen anständigen Abschiedsbrief hast du hingekriegt, du ewiger Versager.“

Ich versuche mich an den Artikel der Bild am Sonntag am Tag nach dem Selbstmord zu erinnern. Was hatten die Schlagzeilen geschrien? Ich weiß es nicht mehr. „Sexy Suizid“ war es jedenfalls nicht. Bild-Reporter hatten an der Haustür unserer Familie geklingelt, noch am Abend des Selbstmords. „Witwenschütteln“ hieß die Methode. Die Hinterbliebenen gerade Verstorbener so lange bedrängen und schütteln, bis ihnen die Worte, die sie nicht sagen wollten, die niemanden etwas angingen, aus dem Mund fielen. Meine drei Brüder und ich hatten damals die Tür verrammelt, die Tür zu jenem Haus, unter dessen Dach ich jetzt sitze.

Ich gebe der Kiste einen kleinen Fußtritt, es staubt, ich ziehe noch mehr Papiere heraus, Blätter mit kaum lesbaren Stichwörtern, ein Löschpapier, leere Notizzettel, einen Feldpost-Umschlag ohne Inhalt. Soll doch das Zeug verrotten. Soll er doch verrotten in seinem Grab. Was geht mich der Kerl an. Seit 35 Jahren tot, und das soll er gefälligst auch bleiben. Andere haben Väter, auf die sie stolz sein können, ich habe nur diesen abgestandenen Nazi zu bieten mit seinen abgestandenen Ideen.

„Augst wurde sechsundfünfzig Jahre alt“, schrieb Günter Grass über meinen Vater in seinem „Tagebuch einer Schnecke“. „Zyankali, das Salz der Blausäure (HCN), wird durch Magensäure freigesetzt und blockiert die eisenhaltigen Atmungsfermente. 80 bittere Mandeln enthalten die tödliche Dosis von 60 mg Blausäure. (Die Mandel als Metapher: Celan-Zitate.) Bei der Obduktion meldet Bittermandelgeruch in der Schädelhöhle die Todesursache. Bei Augst wurden Vergiftungssymptome durch Erstickung genannt: Forcierte Atmung, Verminderung der Atmung, Bewußtlosigkeit, Krämpfe, Atemstillstand.“ Mein Vater hatte einen Erstickungstod erlitten. Er war an seinem Schweigen erstickt.

In den Wochen nach seinem Selbstmord meinte ich zu riechen, dass der Bittermandelgeruch um uns herum langsam, ganz langsam verflog. Dazu trugen auch die Tage am Bodensee bei. Ich weiß nicht mehr, war es Anfang oder schon Mitte August, als wir, die Restfamilie, die am Leben Gelassenen, in den Urlaub fuhren. Meine Mutter hatte eine Ferienwohnung am Westufer des Sees gemietet, nur ein Zimmer mit Kochnische und Bad, aber die Enge war uns recht, wir legten uns in Schlafsäcken nebeneinander, suchten gegenseitige Nähe. Tagsüber schwammen wir oder gingen spazieren. Und abends hockten wir zusammen und redeten und redeten. Warum hat Vater das getan? Was ist in ihm vorgegangen? Weshalb hat er so wenig Rücksicht auf uns genommen? Wieso glaubte er, keinen anderen Ausweg mehr zu haben? Weswegen in aller Öffentlichkeit? Was für ein Zeichen sollte das sein? Hätten wir das verhindern können? Wir fühlten uns mitschuldig.

Nein, wir sind nicht mitschuldig, sagte meine Mutter. Er konnte nicht anders. Er war nicht mehr fähig, ein normaler Vater zu sein. Früher, da war er zugänglicher, noch nicht so depressiv. Ihr habt es ja gesehen, in den letzten Monaten hat er meistens auf dem Bett gelegen und die Zimmerdecke angestarrt. Er war doch krank. Krank? Was sollte das für eine Krankheit gewesen sein? Er hat doch Pillen genommen, klärte mich der mittlere meiner Brüder auf. Chemische Stimmungsaufheller hat der Vater genommen. Gegen Depressionen. Aber irgendwann im Sommer hat er sie wieder abgesetzt. Er wollte einfach nicht mehr. Meine Mutter zitierte einen Bekannten aus ihrem Bibelkreis. Ob man die Krankheit unseres Vaters nun eine paranoide Schizophrenie oder eine schizophrene Paranoia nennen wolle, das bleibe sich gleich. Aber ist ein Nazi, der an seinem Schweigen erstickt, paranoid? Und warum haben ihn alle schweigen lassen? Auch die eigene Familie? Warum hat nie jemand gefragt, wie das gewesen war, damals? Weil er ja doch nicht antworten würde? Oder waren wir alle krank? Angesteckt von diesem Schweigen?

Heute bin ich überzeugt davon, dass mein Vater weder paranoid noch schizophren war. Wahrscheinlich hatte er eine neurotische Störung, aber vor allem war er schwer depressiv. Und seine Depressionen hatten einen handfesten Grund. Es waren die in seiner Seele vergrabenen, nie eingestandenen, nie formulierten Schuldgefühle.

Mein Vater, Jahrgang 1913, erstgeborener Sohn einer pietistisch geprägten Familie aus einem Schwarzwalddorf, hatte auf der Nazi-Stufenleiter wenig ausgelassen. 1931, im Jahr seines Abiturs, Eintritt in die NSDAP und die SA, 1933 SS-Mann und Hitlerjugend-Führer, ab 1934 Studium der „Rassenkunde“ an der SS-Eliteuniversität Jena, Mitglied in der „Deutschen Glaubensbewegung“ und im „Kampfbund für deutsche Kultur“. Er war ein hundertfünfzigprozentiger Nazi, ein ideologischer Dogmatiker, und ironischerweise beförderte ihn gerade diese Eigenschaft manchmal an den Rand der „Bewegung“. Einmal, so erzählte später sein jüngerer Bruder, habe er einen ganzen SA-Zug aufgehalten, weil dieser das Lied „Es zittern die morschen Knochen“ falsch gesungen habe. „Und heute – hört uns Deutschland“, hieß die Textzeile, doch die SA-Männer sangen wie alle Nazis eine andere Version, „Und heute gehört uns Deutschland, und morgen die ganze Welt“, und mein Vater stieß sich daran.

Was will einer werden, der Rassenkunde studiert? Mein Vater muss die Politik der „Ausmerze“ in jeder Hinsicht bejaht haben, war doch seine „Rassenkunde“ die ideologische Rechtfertigung für alle Institutionen, die die späteren Massenmorde planten. Sollte er eine Karriere in der NSDAP und im Reichssippen-Hauptamt anstreben? Oder auf der Universität bleiben? Auf einem Zettel notierte der 21-Jährige im Sommer 1934 seine Möglichkeiten: „Soziologe, Anthropologe, Museumsdirektor, Lehrer, Philosoph, Botaniker, Apotheker …“, außerdem schrieb er dem Reichsernährungsministerium einen Brief. Das Schreiben ist nicht erhalten, aber der Antwortbrief des „Reichsnährstands“ vom „14. Julmond 1934“. Aus der Antwort kann man auf die dargelegte Bitte schließen. „Zuchtwart“ wolle er werden! Nicht etwa für Tiere, nein, für Menschen!

Ich würde gerne lachen, wenn mir nicht zum Heulen wäre. Selbst dem Reichsbauernführer ging diese Idee zu weit: „Auf Ihre an das Reichsernährungsministerium gerichtete Anfrage teilen wir Ihnen mit, dass es zwar den Beruf eines Zuchtwarts heute noch nicht gibt und dem Titel nach vermutlich auch in Zukunft nicht geben wird“, heißt es in dem Schreiben. Aber: „Dagegen macht sich heute bereits der Mangel an rassenkundlich und erbbiologisch wirklich gründlich geschulten Leuten deutlich bemerkbar, und es besteht durchaus die Wahrscheinlichkeit, dass dieser Bedarf, zu dem Zeitpunkt, da Sie Ihr Studium beendet haben, noch keineswegs gedeckt sein wird.“

Das In-eins-Setzen von Tieren und Menschen war Programm. „Wir Deutsche, die wir als Einzige auf der Welt eine anständige Einstellung zum Tier haben“, rief der gescheiterte Geflügelzüchter Himmler bei einer Rede im Oktober 1943 vor SS-Leuten in Posen aus, „werden ja auch zu diesen Menschentieren eine anständige Einstellung einnehmen.“ Er meinte damit die russischen und jüdischen „Untermenschen“.

Mein Vater wollte diese „Anständigkeit“ bei der Waffen-SS beweisen. Zweimal bewarb er sich dort, wurde aber nicht genommen, da er ihren körperlichen Idealvorstellungen nicht entsprach: Er trug eine Brille. Es muss die Kränkung seines Lebens gewesen sein. Er war in Rassenkunde theoretisch und praktisch bewandert, fanatisch glaubenstreu, und sie lehnten ihn ab! Ich habe die Kurzsichtigkeit meines Vaters geerbt, doch ich bin ihm dankbar dafür. Jedes Mal, wenn ich wieder eine Kontaktlinse zerkratze oder in den unendlichen Abflussrohren unserer Zivilisation verliere, sage ich mir, dass mir dafür womöglich ein Massenmörder oder KZ-Aufseher als Vater erspart geblieben ist.

Stramme Nazis, die bei der Waffen-SS nicht unterkamen, gingen oftmals zur Luftwaffe – so auch mein Vater. Schon 1935 hatte er sich freiwillig zum Flak-Kanonier ausbilden lassen, 1939 wurde er Mitglied des „Wachbataillons General Göring“ und bewachte Hitlers fetten Luftwaffenchef. Sein Flak-Bataillon, auf Kurzeinsätze spezialisiert, wurde zeitweilig nach Polen, Holland, Belgien und Frankreich geschickt. 1942 kämpfte mein Vater, inzwischen Obergefreiter, im Afrika-Korps von General Rommel, schoss laut seinem Fronttagebuch mehrere Flugzeuge ab und „zog Leichen raus“. Er wurde krank und kam ins Lazarett. Im Frühjahr 1943 war er wieder an der Front, diesmal in Italien, als Offizier. Nach dem Sturz von Hitlers Verbündetem Mussolini wütete die Wehrmacht in den Partisanengebieten Oberitaliens, fast jeden Tag fanden unter dem Deckmantel der „Bandenbekämpfung“ Kriegsverbrechen statt. Im Juni 1944 verkündete der deutsche Oberbefehlshaber in Italien, Albert Kesselring, er werde „jeden Führer decken“, der bei der Partisanenbekämpfung „in der Wahl und Schärfe des Mittels bei der Bekämpfung der Banden über das bei uns übliche vorbehaltene Maß hinausgeht“. Im Klartext: Als Vergeltung für jeden toten Deutschen war es nun erlaubt, so viele Italiener wie möglich umzubringen. Mein Vater schrieb seinen Eltern, er sei „jetzt noch voller in die Sache rein … Und gottseidank ist die Anständigkeit heute wieder das Wichtigste im Leben geworden.“ Für welche „Anständigkeit“ erhielt mein Vater just zu diesem Zeitpunkt zwei militärische Auszeichnungen? Und was waren das für „Sprengungen“, die er laut seinen Feldpostbriefen im Kriegsgebiet tätigte? Akten darüber, ob seine Einheit an Kriegsverbrechen beteiligt war, sind nicht mehr aufzufinden.

Nach der Kapitulation Nazideutschlands entdeckte er, seines irdischen Führers beraubt, seinen Glauben an Jesus. Süchtig nach Unterwerfung und Einordnung in ein „großes Ganzes“, unterwarf er sich nunmehr dieser „soldatischen Glaubensform“. In den ersten Nachkriegsjahren arbeitete er als Flüchtlingshelfer der evangelischen Kirche, heiratete, bekam nacheinander drei Söhne und Ende 1955 eine Tochter, mich. Seinem „Entnazifizierungsverfahren“ sah er mit höchster Unruhe entgegen, doch als er 1951 vorgeladen werden sollte, stoppten die Alliierten, im Kalten Krieg an Verbündeten interessiert, den Entnazifizierungsprozess.

Seine Psyche verwandelte sich immer mehr in einen Bunker. Er war schon immer ein introvertierter Mensch gewesen, aber nun zog er eine unüberwindliche Betonwand auf und verstärkte sie von Jahr und Jahr. In den Fünfziger- und Sechzigerjahren war das Schweigen meines Vaters das Schweigen aller. Bleideutsch lag es auf der Bundesrepublik Heuchelland, bedeckte sie mit undurchdringlichem Nebel, machte die Menschen unfreundlich und unglücklich.

Mein Vater schwieg, aber er schrieb, so abstrakt wie möglich. Über „radikale Anständigkeit“, „deutsche Frömmigkeit“, „natürliche Ordnung“ und immer wieder über die „soldatische Glaubensform“. Seine Manuskripte über die theologischen Begriffe „Partnerschaft“ und „personelle Partnerschaft“ stapelten sich in Rekordhöhen, wobei er sich irgendwann nicht einmal mehr die Mühe machte, seine Lieblingsidee auszuschreiben, er nannte sie nur noch „Pa“ oder „pe Pa“. „In und nach dem letzten Krieg“, formulierte er für einen Vortrag, „hat es sich in unendlich vielen Fällen herausgestellt, dass der Mensch so ziemlich alle Verluste verschmerzen und verkraften konnte, solange ihm in der Familie, im Kameradenkreis eine pe Pa blieb. Pa ist keine menschliche Erfindung, sondern so was wie eine Naturtatsache. Ihre 3 wichtigsten Modelle sind Ihnen alle bekannt: 1) Das Verhältnis Mutter-Kind, 2) das zwischen Mann und Frau und 3) das der Kameradschaft. Die Mu ist die Pa des Kleinkindes … Während das Kind einfach Pa ist, hat die Mu zugleich damit eine Va für das Kind …“ „Pa“ wurde zu seiner fixen Idee.

Was er darunter verstand, zeigte sich deutlich, als meine Mutter 1968 an Krebs erkrankte. Als sie, todkrank, in einem Sanatorium lag und nichts dringender gebraucht hätte als Liebe und Nähe, schrieb er ihr, nach zwanzig Ehejahren und vier Kindern: „Ich glaube nicht, dass die Bindung zwischen uns bis jetzt ernsthaft ist. Ich will mich von Dir nicht mehr weiter binden lassen…“ Sie schrieb zurück, tief verletzt: „Mist Gefühlskultur“, steht in der Handschrift meines Vaters unter dem Brief der Mutter. Und auf dem Umschlag: „nicht geliebt“ und „Absprung wagen“.

Die U-Bahn kraucht den kurvenreichen Weg zum Stuttgarter Killesberg hinan. Ruckelt, stockelt, quietscht, bremst sich in die Haltestelle Messehallen hinein. Grauer Beton, Rolltreppen, noch mehr Beton. War es schon so steril, als mein Vater hier im Sommer 1969 zum Kirchentag einrollte? 35 Jahre lang habe ich seinen Sterbeort gemieden, jetzt, Anfang 2005, will ich ihn mir anschauen.

Es ist so still auf dem Killesberg, dass man die Ameisen spazieren gehen hört. Keine Messe, keine Veranstaltung, nur ein paar Kinder tollen im „Höhenpark“ herum. Ich versuche, mir vorzustellen, wie sich damals die Massen durch die Messehallen walzten, mein Vater mittendrin, schwitzend, aufgeregt, bei 30 Grad im Schatten und 40 Grad in den Hallen in hitzigste Diskussionen verwickelt, wie sie sich nach den Veranstaltungen erschöpft unter den Bäumen lagerten oder ihr Mütchen in den Wasserbecken des Parks kühlten.

Im Juli 1969 diskutierten die Besucher unter der Regie von Kirchentagspräsident Richard von Weizsäcker in mehrtägigen Arbeitsgruppen, bis die Schweißperlen flossen. Die größte Neuerung auf dem Kirchentag, ein Zugeständnis an die rebellierende Jugend und ein Symbol für die Demokratisierung der Kirche, waren die Saalmikrofone, vor denen sich stets Schlangen bildeten. „Das war etwas Neues: Hallen-Mikrophone für jedermann“, freute sich die Junge Stimme und änderte einen Goethe-Vers ab: „Zum Mikrophon drängt, am Mikrophon hängt nun mal alles.“ Auch mein Vater.

Ich passiere den Haupteingang der Messehallen, gehe hinunter in die Halle 1. Ein riesiger Raum in Kellerhöhe, weiß, steril, nüchtern, eher eine Tiefgarage als ein Versammlungsplatz für Gläubige. Ein Raum wie ein Bunker. Ein passender Todesort für einen, der den Ausgang aus seinem eigenen Seelenbunker nicht mehr gefunden hat. Mir ist unbehaglich zumute.

Am ersten Tag des Kirchentags, zwei Tage vor meines Vaters Selbstmord, drängten sich hier tausende von Zuhörern, darunter möglicherweise auch mein Vater, als die Mitscherlichs ihrem Publikum erklärten, Aggression könne ebenso dem Guten wie dem Bösen dienen. Sie sei eine Quelle der Selbsterhaltung, gehe aber manchmal „weit über die Erfordernisse der Selbsterhaltung hinaus“. Als Beispiel nannten sie den Zweiten Weltkrieg. Eine Abschrift ihrer Rede ist im Evangelischen Zentralarchiv erhalten: „Da stößt man doch auf eine große Zahl von Menschen, die keineswegs aggressiv gespannt sind, die vielmehr eher den Eindruck des Geschobenen machen, die aber gehorsam das tun, was man ihnen überträgt“, sagten sie über deutsche Soldaten und Bürokraten. Das Paradoxe sei, sagten sie auch, dass sogar das Gewissen ein Produkt der Aggression sei. Indem eine Kultur bestimmte aggressive Verhaltensformen verbiete, lernten die Heranwachsenden, ihre Aggression nach innen umzubiegen und zu verinnerlichen. Die Aggression werde „dorthin zurückgeschickt, woher sie gekommen ist, also gegen das eigene Ich gewendet. Die Spannung zwischen dem gestrengen Über-Ich und dem ihm unterworfenen Ich heißen wir Schuldbewusstsein; sie äußert sich als Strafbedürfnis.“

Wahrscheinlich hätte mein Vater, wenn er denn unter den Zuhörenden war, das alles nur noch missverstanden. Ich glaube nicht, dass er eingesehen hätte, dass auch seine Suizidabsicht einem Strafbedürfnis entsprach. Er hätte sich von der These, Aggression könne auch dem Guten dienen, wohl nur bestätigt gefühlt. „Ich bin voll Aggression“, schrieb er in einem seiner Abschiedsbriefe, „und ich sage ja dazu, weil und wenn ich sie nicht zum Schaden, sondern zugunsten von Mitmenschen, zugunsten des Guten ausleben kann. Auch zugunsten meiner Familie, soweit sie aufzuwecken ist. Die Familie hat nicht das Recht, meine Verantwortung mehr zu beanspruchen als die Notwendigkeiten meines Selbst. Jawohl, ich bin dankbar und stolz auf meine Aggressivität und will allen unterdrückten Aggressionen, alle meine Kameraden darin lehren, dass dies auch von Gott und notwendig ist.“ Was für schreckliche Sätze.

Am Samstagnachmittag sollte die Lesung von Günter Grass stattfinden. In der Luft hing schon wieder ein Gewitter, erneut war der Großbunker der Halle 1 überfüllt, Ordner vertrieben die Nachdrängenden. Auf dem Podium saßen Günter Grass, der Pädagoge Hartmut von Hentig und einige andere.

Im „Tagebuch einer Schnecke“ schreibt Günter Grass: „Lange bevor er sich in jener Diskussion zu Wort meldete, sprach Augst, der jedesmal anders hieß, in anderen Diskussionen. Ich kannte ihn schon lange. Wir hätten uns in Delmenhorst, Mainz oder Ulm wie zwei alte Bekannte zuzwinkern können. Wenn er nicht auftritt, vermisse ich ihn: Ohne Augst fehlt was. Als Augst sich zu Wort meldete, erkannte ich ihn an seiner übereilten, den Satzbau verwerfenden Sprache. Auch wie er seine Zettel knüllte, zu lange wirr sprach und peinlich berührte, war nicht neu.

Wenn ich alles Beiwerk weglasse, klagte er zuallererst die Kirche an, weil sie ihm Partnerschaft verweigert hatte. Beengt von seinem Wortschutt, sprach er von verlorengegangener Kriegskameradschaft. Er vermißte Werte. Er bedauerte, daß niemand ihn und seine Generation gelehrt habe, flüssig zu sprechen, wie es die Jugend heute könne: frei sprechen. Es läßt sich nicht nachschreiben, was er sagte, weil er verheddert im Unterholz und traurig wirr sprach. Ich reihe: Lebenseinsatz, im Stich gelassen, ein Zeichen setzen, durch unbedingte Treue, das selbstlose Opfer, wie der Protest der Jugend, nämlich ganz, damit ich gehört werde … Nur zum Schluß fand sein gestammelter Ausverkauf Gleise. Er hatte sich vorbereitet und beeilte sich springend auf den letzten Satz zu. Ohne in seinen Zetteln zu suchen, sagte er: ‚Ich werde jetzt provokativ und grüße meine Kameraden von der SS!‘ Ein Wort, das wie eingeübt seine Entsprechung fand; denn auch das Zischen der barfüßigen Jugend war Teil des Rituals, der Passion. Er hatte die Stelle getroffen. Zischen als gehorsamer Reflex. Und auch mein Versuch, dem programmierten Vorgang die üblichen Argumente in den Weg zu stellen, wurde Teil seiner Passion als Ritual.

Danach meldeten sich andere zu Wort in ihrem Hunger nach Gerechtigkeit. Glatthäutig wurde der ‚Neue Mensch‘ gefordert. Auf dem Podium gab man zu, verlegen zu sein. Professor von Hentig litt öffentlich. Professor Becker vermittelte. Auch ich sprang nicht auf, um ihn einzuholen. Ich sagte schon, Kinder, es war sehr heiß auf dem Evangelischen Kirchentag. Das Unterbewußte wurde als Schweißtüchlein reihum gereicht. Aus der Mitte der Halle rief jemand: ‚Schnell! Sanitäter!‘ “

UTE SCHEUB, 50, ist taz-Mitgründerin und lebt als freie Autorin in Berlin. Ihr Buch „Das falsche Leben“, aus dem wir Teile vorabdrucken, erscheint am 22. Februar bei Piper (304 Seiten, 18,90 Euro). In ihm schildert sie unter anderem ihre Recherchen zur NS-Vergangenheit ihres Vaters, wie taz-Kollege Andreas Zumach Manfred Augsts Tod aus nächster Nähe miterlebte und wie Günter Grass später die Familie besuchte. Dessen Buch „Aus dem Tagebuch einer Schnecke“ ist in der Grass-Werkausgabe bei Steidl erschienen (328 Seiten, 13 Euro)