Das olympische Spektrum

Wir sehen Drahtige und Kräftige, Kurze und Lange, Junge und ziemlich Alte, vor allem: Frauen und Männer. Die Übertragungen aus Turin sind besser, als die von der Fußball-WM jemals sein werden

VON JAN FEDDERSEN

Es schmerzt so viel, was ARD und ZDF in diesen olympischen Tagen aus Turin über ihre Sender schicken: Kati Witt, ewige Ostzonencarmen, auch, leider, Harald Schmidt, der doch etwas unter Form bleibt. Irgendwann wirkt jede Affirmation absolut unironisierbar. Auf die Nerven ging, man wundert sich schon nicht mehr, am Wochenende auch einmal mehr das gesamtnational anmutende therapeutische Sinnen um das sportliche Vermögen des Skispringers Martin Schmitt. War der erste Sprung nun „ein erster, kleiner Schritt“ (ZDF), wieder alten Glanz aufscheinen zu lassen?

Und derlei Fragen mehr: Rhetorisch extrem schadstoffhaltig waren, wie früher allerdings schlimmer, in erster Linie die vielen Präsentatoren, weniger Lierhaus, mehr Cerne. Aber das Publikum der Öffentlich-Rechtlichen scheint das nicht zu stören: In Turin mag Spiegel online ein „Warten auf die Leidenschaft“ ausgemacht haben – vor den Bildschirmen zu Hause war man passioniert. So hoch fielen die Quoten aus, hin und wieder mehr als 40 Prozent, dass der weitere TV-Rechteerwerb (Vancouver 2010, London 2012) kaum umstritten sein dürfte.

Aber weshalb ist das so? Wieso tut in Deutschland noch jeder so, als sei das größtmögliche Ereignis die kommende Fußballweltmeisterschaft der Männer? Ist es nicht ungerecht, dieses Turnier, ein rein männlich-homosoziales Festival, zu ersehnen – wo doch die Olympischen Winterspiele offenbar ebenso, geschlechterübergreifender, goutiert werden? Liegt das womöglich daran, dass – sei es beim Skeleton (Sebastian Haupt, Platz 9), bei der Nordischen Kombination oder beim Biathlon – die identifikationsfähigeren Menschen die Bühnen bevölkern? Und dass das ganze Übertragungssetting nicht allein das Männliche hervorhebt, sondern auch das Weibliche? Nur noch zwei Disziplinen sind winterolympisch pur männlich besetzt, das Skispringen und die Nordische Kombination: Diese Domänen, unvermeidlich, werden auch noch weiblich – denn die Feminisierung der anderen Sportarten hat dem Zuschauerinteresse ja ebenfalls nur aufgeholfen. Beim Biathlon (Frauen können auch schießen), beim Bob (können ein seltsam-unförmiges Schlittengerät gleich gut durch einen Eiskanal steuern) oder beim Eishockey (auch wenn den Frauen Bodychecks strikt verboten sind).

Allein die Gleichberechtigung trägt die Verantwortung für das enorme Interesse des Publikums. Gleichfalls, dass die Heldinnen und Heldin, ob siegreich oder nicht, so einen angenehm normalen Eindruck machen. Man sieht Drahtige und Kräftige, Kurze und Lange, Tapfere und Verzagte, Junge und ziemlich Alte (zwischen 16 und 41 Jahre alt waren die Goldsilberbronzegewinner bislang – auch diese Altersspanne hat der Fußball nicht zu bieten). Das Identifikationsspektrum in Breitwand: Sogar Männer (Sven Fischer: „Meine Gefühle behalte ich für mich“) bekommen einen fetten Wasserschimmer in die Augen bei der Medaillenvergabe, Frauen werden verzweifelnd-wütend (Evi Sachenbacher-Stehle: „Ich mach nichts Verbotenes“); andere patzig (Alexander Herr: „Trainer inkompetent“) oder unerklärlich nervös (Sven Lindemann: „Da hatte ich einen Zucker“). Fast niemand hat diese unerträgliche Lotharmatthäushaftigkeit, keiner die coole Aufgeräumtheit eines Jürgens Klinsmann, gar staatsbesorgtes Tremolo (DFB-Halbpräsident Theo Zwanziger) oder weltläufige Cholerik wie Franz Beckenbauer – niemand kultiviert die fußballtypische Arroganz des Aufmerksamkeitsprotzes unter allen Sportarten.

Nicht minder unbesorgt muss einen bei Olympia die ewige Gefahr des Nationalismus lassen: Niemand in der ARD oder beim ZDF lässt sich übertrumpfen im multikulturellen Gerechtigkeitsempfinden. Da siegt ein Franzose im Biathlon – und alle beteuern, wie sehr man ihm dies gönne. Ein Norweger wie Ole Einar Björndalen, hoch favorisiert, gewinnt nicht – und wird getröstet. Beim Fußball hingegen darf man jetzt schon darauf wetten, dass die männliche Nation übel nimmt, wenn Klinsmann und die Seinen den Titel verfehlen: Wahrscheinlich war dann der Schiedsrichter besoffen oder die anderen unfair oder die Aufstellung war falsch. Man wird im Juni den unaufgeregten Ton der Turiner Übertragungen vermissen – die Bilder vom Curling, vom Langlaufen oder vom Fraueneishockey. Es machte bislang gelegentlich dramatisch hochgeföntes Vergnügen. Aber nie war es so hysterisierbar, wie es bei der Fußball-WM sein wird.

Mit einer Ausnahme: Gewinnt Uschi Disl Sonnabend das letzte Biathloneinzelrennen? Nutzt sie ihre allerletzte Chance auf Gold? Das wäre ein Anlass, der jedes Mitfiebern verdient.