Zwei Grad reicht nicht

ERDERWÄRMUNG Fixierung auf das bislang allgemeingültige Ziel ist fatal für den Globus – fürchten Schweizer Wissenschaftler

VON INGO ARZT

BERLIN taz | Angenommen, die Menschheit schafft es tatsächlich, die globale Erwärmung einzudämmen. Und trotzdem sind die Auswirkungen auf dem Planeten viel schlimmer als gedacht: Korallenriffe sterben ab, Äcker werfen weniger Ertrag ab, Küstenstädte werden überflutet. Vor einem solchen Szenario warnen jetzt drei Schweizer Forscher in der aktuellen Ausgabe der Fachzeitschrift Nature. Damit rütteln sie an einem Paradigma der internationalen Klimapolitik: dem sogenannten 2-Grad-Ziel.

Wenn sich der Planet nicht weiter erhitzt als 2 Grad über dem durchschnittlichen Niveau vor der Industrialisierung, dann gilt die globale Erwärmung quasi als besiegt. Das ist derzeit der Leitsatz der Klimaschützer, akzeptiert von der Staatengemeinschaft auf dem Klimagipfel von Cancún 2010. Es wird nach dieser Lesart trotzdem zum Anstieg des Meeresspiegels, zu extremen Stürmen und Dürren kommen, viele Arten sterben aus. Was jedoch ausbleibt, ist ein gefährlicher Dominoeffekt, der den Temperaturanstieg auch ohne menschlichen Einfluss weiter vorantreibt. Damit das so bleibt, dürfen nach bisheriger Erkenntnis maximal noch 3- bis 6-mal so viel Klimagase in die Atmosphäre geblasen werden wie in den letzten zehn Jahren.

Die neue Studie kommt zu dem Ergebnis, dass damit zwar das 2-Grad-Ziel erreichbar ist. Sollen aber andere potenziell fatale Auswirkungen vermieden werden, dürfen es nur maximal noch doppelt so viel Klimagase sein. „Man wiegt sich in falscher Sicherheit, wenn man nur das Temperaturziel betrachtet“, sagt Marco Steinacher, einer der Autoren. Die Faustformel 2-Grad-Ziel bereitet vielen Klimaforschern ohnehin Bauchschmerzen. Schließlich ist ihre Wissenschaft eine, die Wahrscheinlichkeiten dafür angibt, dass bestimmte Szenarien unter bestimmten Voraussetzungen eintreffen. Die Erderwärmung kann also glimpflicher verlaufen. Aber auch viel schlimmer als gedacht. Klimapolitik heißt also, die Wahrscheinlichkeit zu senken, dass es richtig katastrophal wird.

„Dafür müssen wir mehrere Ziele definieren, nicht nur das 2-Grad-Ziel“, sagt Steinacher. Seine Gruppe hat sechs derartige Ziele formuliert: neben einer maximalen Temperaturerhöhung etwa eine maximale Versauerung der Ozeane. Deren pH-Wert sinkt, wenn sich CO2 im Wasser löst. Das belastet Korallenriffe, Panzer von Schalentieren zersetzen sich, das maritime Ökosystem ist gefährdet. Ein weiterer Wert gibt den maximalen Verlust von fruchtbarem Ackerland an oder den maximalen Anstieg des Meeresspiegels.

Für Steinacher wichtig: Es reicht nicht aus, den CO2-Ausstoß auf das Level zu senken, das genügt, um das schwierigste aller Ziele zu erreichen. Will man nicht nur eine höhere Temperatur verhindern, sondern gleichzeitig genügend Ackerland bewahren oder versauerte Ozeane verhindern, beeinflussen sich diese Ziele gegenseitig. Das sorgt dafür, dass das CO2-Level noch niedriger sein muss als bislang gedacht. Fazit: Das Risiko katastrophaler Schäden bei einer Erwärmung von 2 Grad ist viel höher als gedacht.

Welche Schäden akzeptabel sind, will Steinacher andere entscheiden lassen: „Was noch tragbar ist, darüber müssen sich Gesellschaft und Politik verständigen. Der ständig steigende CO2-Ausstoß verringert aber den Handlungsspielraum zunehmend.“