„Familien zu isoliert“

Kindesmisshandlungen kommen auch deshalb vor, weil niemand Eltern hilft, meint Psychiatrie-Professor du Bois

taz: Herr du Bois, heute wird in Cottbus das Urteil gegen die Eltern des kleinen Dennis erwartet, der verhungert ist. Aber das ist mehr als ein spektakulärer Einzelfall. Nach Unicef-Schätzungen sterben jede Woche in Deutschland zwei Kinder, weil Vater oder Mutter sie vernachlässigt oder misshandelt haben. Handeln diese Eltern aus Hass?

Reinmar du Bois: Hass ist ganz selten. Das Problem ist die Ignoranz: Die Kinder werden gar nicht beachtet. Die Eltern akzeptieren sie nicht als Wesen mit vielfältigen Bedürfnissen. Doch das ist nicht die einzige Erklärung. Verhungernde Kinder haben oft essgestörte Mütter. Die Mutter benutzt den Körper des Kindes als Ersatzobjekt für eigene Phobien. Sie sieht ja, dass das Kind hungert. Und das bereitet ihr eine gewisse Befriedigung. Die Probleme werden weitergereicht. Wenn etwa bei einer Frau die inneren Spannungen unerträglich werden, dann kann sie sich selbst in die Haut ritzen – oder sie misshandelt das Kind.

Wie erklären Sie, dass in Fällen wie dem des Jungen Dennis ein Kind verhungert – die anderen aber durchaus von der Mutter versorgt werden?

Das ist eine Schlüssel-Schloss-Geschichte. Manche Kinder haben Eigenschaften, die etwas in der Mutter wach rufen. Oft benutzt sie dann die anderen Kinder, um sich selbst und der Umwelt zu beweisen, dass sie auch eine gute Mutter sein kann. Und vor der Nachbarin schwärmen, wie toll das Kind sei – das tun auch solche Mütter, die genau dieses Kind zu Hause misshandeln. Grundsätzlich sind mittlere Kinder einer größeren Geschwisterschar besonders gefährdet. Die älteren Kinder haben die Mutter ausgelaugt. Die Restaufmerksamkeit geht an die Babys.

Die Zahl gemeldeter Misshandlungen ist gestiegen. Gibt es heute tatsächlich mehr solcher Fälle – oder reagiert das Umfeld nur sensibler?

Dazu gibt es keine verlässlichen Daten. Ein Problem allerdings hat zugenommen: Die Familien sind heute zu klein und zu isoliert. Früher griff eher mal eine Oma oder Kusine rettend ein.

Wie entwickeln sich Kinder, die Misshandlungen überleben? Wie prägt sie das Erlebte?

Die Kinder spielen nicht. Sie haben keine Fantasie, wirken fast autistisch. Ihr Selbstvertrauen ist minimal. Sie lehnen sich selbst ab, weil ihre Eltern sie ablehnten. Viele Kinder sind kleinwüchsig und essen zu wenig. Oft merkt man erst, wenn ein Kind in eine Pflegefamilie kommt, wie stark es vernachlässigt wurde. Auf einmal entsteht ein Gefühlsleben.

Wagen es solche Kinder, später eine Familie zu gründen?

Ja. Missbrauchte und vernachlässigte Menschen kriegen sogar besonders früh Kinder. Sie versuchen, aus der Herkunftsfamilie wegzukommen – und basteln sich Illusionen eines Familienidylls. Oft geraten sie dann in eine tückische Wiederholungsspirale.

US-Psychologen haben eine Studie veröffentlicht, wonach Kinder, die Misshandlungen erlebt haben, in mehrdeutigen Gesichtsausdrücken stärker den Ärger wahrnehmen. Wie erklären Sie sich den Befund?

Die Kinder rechnen permanent damit, dass etwas Schlimmes passiert. Ihre ganze Beobachtungsgabe stellen sie in den Dienst eines Frühwarnsystems.

Kann sich das Verhältnis misshandelter Kinder zu ihren Eltern je normalisieren?

Früh misshandelte Kinder sind gar nicht in der Lage, die Eltern zu hassen. Oft idealisieren sie sie, wenn sie im Heim oder bei einer Pflegefamilie sind. Sie bauen sich ein Bild auf, wie schön das Zuhause war, und wollen zurück. Treffen sie die Eltern dann, sind sie enttäuscht. Doch zum endgültigen Bruch kommt es fast nie. Im günstigsten Fall vermeiden es die Kinder, sich der immer gleichen Enttäuschung auszusetzen. Vor sich selbst zuzugeben, dass die Eltern einen nicht geliebt haben – das schafft fast niemand.

INTERVIEW: COSIMA SCHMITT