IM FISCHLADEN GIBT ES MARITIME WITZE, BIOBROT IST TROCKEN - UND DIE DEALER HABEN IMMER EIN HÜBSCHES KOMPLIMENT PARAT: Ein utopischer Ort namens Wrangelkiez
VON FATMA AYDEMIR
Es gibt einen Ort, an dem die Menschen tun und lassen können, was sie wollen. Wo sich keiner einmischt und wo keiner mit dem Finger auf sie zeigt, wenn sie besoffen vor dem Kaiser’s rumhängen, wenn sie mit ihren Kindern auf dem Bürgersteig Fahrrad fahren, wenn sie die Hüllen ihrer Sonnenblumenkerne auf den Boden fallen lassen, wenn sie im Park täglich Gras verkaufen, wenn sie im Park sonntags Hunderte von rauchenden Einweggrills aneinanderreihen, wenn sie viel zu viel Geld für trockenes Biobrot bezahlen, wenn sie gespritzte Riesentomaten vom Türken essen, wenn sie samstagmorgens drauf sind und belustigt und vor der Bäckerei mit einer Knarre herumhantieren. Weil sie anders sprechen, anders aussehen und anders ticken. Dieser utopische Ort heißt Wrangelkiez.
Hier kann jeder Freak sein, wie er möchte, oder auch nicht. Und diesen Ort muss ich nun schweren Herzens verlassen. Hier befand sich meine letzte und längste Zwischenmiete innerhalb eines Marathons, der mich seit 13 Monaten durch die gesamte Stadt gejagt hat. Zum ersten Mal will ich eigentlich bleiben. Doch das geht nicht, weil ich die hier verlangten Freak-Mieten nicht bezahlen kann.
Schon komisch: Als ich in den Neunzigern mal zu Besuch bei einer Tante war, die in der Oppelner geboren und aufgewachsen ist, traute sich kein Schwein in diese Ecke. Zu gefährlich, zu türkisch. Heute wohnen die einstigen Wrangelkiez-Kinder in Rudow und in Spandau, wenige sind geblieben und teilen sich das Viertel mit jungen Familien, Spaniern, Kreativen und denen, die hier einfach nur herumspazieren, weil eine seltsam verschlafene Zufriedenheit in der Luft liegt.
Über Jesus reden
Das fängt schon beim Kulinarischen an. Beim Fischladen in der Wrangelstraße bekommt man nicht nur extrem guten Thunfisch, sondern immer auch einen maritimen Witz und ein Lächeln mit auf den Weg. Schräg gegenüber befindet sich das Kunstcafé „Where is Jesus?“, dessen Öffnungszeiten je nach Laune der sympathischen Italo-Hipster variiert (ein Traum von Cappuccino kostet gerade mal 1,50 Euro!), und wo regelmäßig verrückte Katholikinnen reinkommen und sich über Jesus unterhalten wollen.
Etwas teurer, aber mindestens genauso gut ist das „Café Passenger“ in der Oppelner Straße, in dem die neuseeländische Barista glücklicherweise ihre Leidenschaft für die Musik der libanesischen Halbgöttin Fairuz entdeckt hat und deshalb jeden Morgen den Schlesi mit „Habibiiii“- Gesängen beschallt. In der Bar „Sophia“ wird hingegen zum Höhepunkt der Party „Johanniskraut“ gesungen, wenn man mittwochabends zwei Bier zum Preis von einem bekommt. Und das Eis bei Aldemir in der Falckensteinstraße – hier kann man sich selbst trauen das Gorgonzolaeis zu essen, ein Geschmackserlebnis.
Kontroverse Nostalgie versprüht das Graffiti in der Cuvrystraße: „Die Revolutionäre können sie töten, aber nicht die Revolution“ steht da rot auf grau. Drei Häuser weiter kann man sich für 70 Euro die Haare schneiden lassen und zugleich Designermöbel shoppen.
Wer nur einen Zehneuroschein einstecken hat und etwas für sein geistiges Wohl tun will, den führt es direkt ins Herz des Kiezes. Grün und verdreckt pulsiert der Görli zu allen Tageszeiten, im Sommer lässt sich hier auch schon mal die halbe Nacht mit Live-Getrommel oder Reggae aus der Anlage verbringen. Die Dealer haben immer ein hübsches Kompliment parat und klären einen pflichtbewusst über die letzte Messerstecherei auf („Misunderstanding girl, not a big deal!“), die sich ganz bestimmt nicht mehr wiederholen würde. Scheiß-gentrifiziertes-Drecknest hin oder her – im Wrangelkiez ist das Leben noch in Ordnung. Und wer nicht mitkommt, der ist im falschen Film.
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