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: Irina Slutskaja

Als Irina Slutskaja vor vier Jahren aus Salt Lake City nach Moskau zurückkehrte, lag ein Geschenk für sie bereit: Ein Juwelier hatte eine Nachbildung der Goldmedaille für sie angefertigt. Sie selbst hatte die Silberne im Gepäck, doch es war nicht ganz klar, ob das eher eine Trophäe oder ein Trostpreis war. Punktgleich mit der Siegerin Sarah Hughes war sie Zweite bei den Olympischen Spielen geworden, Folge einer einzigen fehlenden Stimme des Preisgerichts. Der russische Verband hatte daraufhin protestiert und vergeblich Gold für Slutskaja verlangt.

Tempi passati. Diesmal ist sie die große Favoritin. In diesem Winter und im vergangenen hat sie einen einzigen Wettbewerb verloren, das Grand-Prix-Finale 2005, doch die Siegerin ist in Turin nicht dabei. Mao Asada ist erst seit September 15 Jahre alt und damit ein paar Monate zu jung, um bei den Spielen laufen zu dürfen. Michelle Kwan ist bekanntlich auch nicht in Turin. Vor ein paar Tagen ist deren Ersatz eingetroffen, die 17 Jahre alte Emily Hughes. Nun fehlt der guten Emily zwar jede Erfahrung, aber welch verrückte Dinge manchmal bei Olympischen Spielen passieren, das muss ihr niemand erklären. Sie saß vor vier Jahren auf der Tribüne, als ihre Schwester Sarah in einem Wettbewerb voller Kapriolen Gold gewann.

Auch die anderen Japanerinnen haben was zu bieten. Miki Ando, 18, kündigte vor ein paar Tagen an, wenn alles passe, werde sie den vierfachen Salchow probieren. Sie ist die einzige Frau, die das in internationalen Wettbewerben bisher geschafft hat.

Irina Slutskaja wird es egal sein. Sie weiß, dass sie sich auf die eigene Stärke verlassen kann. Den letzten Beweis dafür hat sie seit ein paar Wochen in der Tasche, seit ihrem Sieg bei den Europameisterschaften Mitte Januar. In Lyon gewann sie ihren siebten EM-Titel, überholte damit Sonia Henie und Katarina Witt. Mit sieben EM-Siegen und den beiden Weltmeistertiteln von 2002 und 2005 ist Slutskaja längst eine Größe in der Geschichte des Eiskunstlaufs. Als sie 1996 zum ersten Mal Europameisterin wurde, war sie 16, einen Tag vor der Eröffnung der Spiele von Turin feierte sie in Moskau ihren 27. Geburtstag. Ach, das Alter; Schall und Rauch. Von ihrer ansteckend fröhlichen, unkomplizierten Art hat sie im Laufe der Jahre nichts verloren, und irgendwie kommt es einem schon merkwürdig vor, wenn für die passenden Vergleiche die Historie bemüht werden muss. Die Engländerin Florence „Madge“ Syers war beim Sieg im Rahmen der ersten Winterspielen anno 1908 in London 26 oder 27 Jahre alt – so genau weiß man das nicht, denn in den Büchern ist nur der Jahrgang von Miss Syers verzeichnet (1881), nicht aber der Monat dazu. Falls Irina Slutskaja nun am Donnerstag in Turin die Goldmedaille im Eiskunstlauf gewinnt, ist sie entweder die Älteste seit Syers oder die Älteste überhaupt. DORIS HENKEL