MIT MUNDSCHUTZ
: Vögel der Großstadt

Er hat immer einen krummen Ast dabei

Er wohnt im Nebenhaus, wo eine alte Dame manchmal ihr Essen aus dem dritten Stock wirft. Wenn man genau dann seinen Kopf aus dem Fenster streckt, kriegt man die Reste ab. Ich glaube aber nicht, dass er was mit der alten Dame zu tun hat. Er ist groß und klapperdürr, trägt einen altmodischen grauen Anorak, der wie ein Zelt um ihn herumhängt, und einen Mundschutz, wie man das manchmal bei Japanern sieht, die große Angst vor Viren haben. Sie würden sich über seinen lächerlichen Mundschutz wahrscheinlich totlachen.

Der komische Vogel hat immer einen krummen Ast dabei, der gut zum Fuchteln, aber bestimmt nicht als Stütze taugt. Leicht nach vorne gebeugt, verschränkt er die Hände philosophisch auf dem Rücken. Er hat immer dieselbe, schon ziemlich abgenutzte Kaiser’s-Plastiktüte dabei. Er geht nie auf dem Bürgersteig, sondern immer am Straßenrand, um einen möglichst großen Abstand zum normalen Straßenvolk zu halten. Alle fünf Meter bleibt er stehen und winkt beleidigt vorbeifahrenden Autos hinterher, als wolle er ausdrücken, jaja, verpestet ihr nur die Luft mit euren Abgasschleudern, ihr minderbemittelten Naturschädlinge. Oder so was in der Art.

Dann stochert er mit seinem Ast in der Luft herum. Er strahlt etwas aus, das einen nicht dazu verführt, Kontakt mit ihm aufzunehmen. Aber er ist eine Bereicherung in einem Kiez, der sonst mit Touristen, Alternativmuttis und quäkenden Kleinkindern bevölkert ist und türkischen Jugendlichen, die vollgepumpt sind mit Testosteron. Eine Zeit lang stapfte auch ein Schwarzer mit französischem Tourette-Syndrom schwer und laut auf das Pflaster und bewegte sich wie eine alles plattmachende Dampfwalze. Es sah gefährlich aus, wie er fluchend, schnaubend und grimassierend durch die Gegend ramenterte, war aber letztlich völlig harmlos. KLAUS BITTERMANN