Merkel erfreut alle

AUS BERLIN LUKAS WALLRAFF

Ein „Wertekongress“ der CDU mag die Welt nicht verändern – aber ein wichtiges, konkretes politisches Ziel immerhin hat Angela Merkel damit erreicht: Der eigene Arbeitnehmerflügel und die Gewerkschaften sind wieder beruhigt. Beide hatten befürchtet, die Kanzlerin wolle zu sehr den Wert der „Freiheit“ betonen und den Wert der „Solidarität“ an den Rand drängen. Der Chef der CDU-Sozialausschüsse, Karl-Josef Laumann, warnte: Die Union sei in Gefahr, einen „Irrweg“ einzuschreiten, weil sie als neues Motto ausgegeben hatte: „Neue Gerechtigkeit durch mehr Freiheit“.

„Ich fand die Rede von Frau Merkel sehr gut“, sagte Laumann nun der taz. Die Kanzlerin habe die Diskussion über ein neues Grundsatzprogramm der CDU, die gestern offiziell begann und bis 2007 dauern soll, „in die richtige Richtung gelenkt“. Besonders gefreut hat Laumann, dass Merkel „den Freiheitsbegriff in den Verantwortungsbegriff eingebettet“ habe. Das sei wichtig, denn: „Wer die Verantwortung betont, schränkt die Freiheit ein, das ist doch logisch.“ Und für Laumann „sehr beruhigend“.

Merkels Erläuterungen erfreuten auch DGB-Chef Michael Sommer. Die CDU-Chefin habe „eine ganz andere Rede“ gehalten als noch vor gut zwei Jahren auf dem Leipziger Parteitag, als sie für Kopfpauschalen warb, bemerkte Sommer. Inzwischen habe Merkel „begriffen, dass man mit neoliberalen Ideen in Deutschland keine Mehrheiten bekommt“. Sie habe sich auf die Arbeitnehmer „zubewegt“.

So viel Lob hat Merkel vom obersten Gewerkschafter noch nie bekommen. Was war geschehen? Hat Merkel ihre radikalen Reformideen aufgegeben, das Maggie-Thatcher-Image widerlegt? Sucht Merkel den Vergleich mit Mutter Teresa? Wohl kaum. Vieles spricht dafür, dass sie nur eine Pause einlegt – und erst einmal genießt. Nach hundert Tagen im Kanzleramt sind ihre Umfragewerte gut, selbst aus der SPD ist Lob zu hören. Warum jetzt den Koalitionspartner provozieren?

So erlebten die Delegierten keine kämpferische Parteivorsitzende, die andere Parteien angreift, sondern eine Kanzlerin, die sich in einer Moderatorinnen-Rolle wohl fühlt. Sie verzichtete auf alles, was irgendwie radikal klingen könnte. Vom Duktus ihrer Regierungserklärung („Wir müssen mehr Freiheit wagen“) war kaum noch etwas zu spüren. Aus der ungeduldigen Reformerin, die für „Politik aus einem Guss“ sorgen wollte, ist eine betont verständnisvolle Kümmerin geworden. Rhetorisch. Für den Moment. Die Globalisierung wecke bei den Menschen Ängste, sagte Merkel, „damit müssen wir uns befassen“. In der Welt, das sei nicht zu bestreiten, gehe es ungerecht zu: „Es gibt heute Gewinne und Renditen, für die viele Menschen kein Verständnis haben, weil sie gleichzeitig ihren Arbeitsplatz verlieren.“ Unternehmerkritik? Von Merkel? Bevor ihr Sommer einen Mitgliedsantrag überreichen konnte, erinnerte Merkel dann doch an einige ihrer Leipziger Prinzipien. „Subsidiarität“ zum Beispiel sei ein richtiges Prinzip – deshalb wären auch „Bündnisse für Arbeit“ in den Betrieben gut, befand Merkel. Das fand Sommer nicht ganz so gut.

Natürlich nannte Merkel „das christliche Menschenbild“ als Maßstab für die Arbeit der Union. Aber sie bemühte sich, daraus keinen Allwissenheitsanspruch abzuleiten. Im Karikaturenstreit etwa sei klar, dass man Gewalt ablehnen müsse, doch sie frage sich, „ob wir allein mit dieser Antwort durchkommen“. Wahrscheinlich, so Merkel, müsste man „mehr über die Gefühle anderer wissen“. Immer wieder: Man müsste fragen, man müsste wissen.

Das Erstaunliche daran war: Merkel leistete sich den Luxus öffentlicher Ratlosigkeit. Die Union müsse sich eingestehen, „dass wir auf eine ganze Reihe von Fragen im Moment keine schlüssigen Antworten haben“. Diesen Luxus kann sich nur leisten, wer schon am Ziel ist – also im Kanzleramt, und dort im Moment erfolgreich.