Männer, die Tränen trocknen

ERZIEHER Ist es gut, wenn in einer Kita mehr Männer arbeiten als Frauen? Die Mütter finden: Ja. Der Leiter sagt: Wichtig ist die Arbeit. Den Kindern ist es eher egal. Besuch in einer besonderen Berliner Tagesstätte

Es ist kurz nach halb zehn, da begreift Vincent, dass seine Mama ihn verlassen wird. Er lässt sein Stück Brot fallen, hebt hilflos die Arme, reißt den Mund auf und heult. Mama streichelt seine Wange zum Abschied und verlässt Vincents Welt durch die weiße Schiebetür. Vincent ist zerstört. Doch dann wird der einsamste Mensch im Universum vom Stuhl gehoben und landet auf dem Arm von Kai. Kai trägt ihn nach draußen und holt drei Kartons Papiertaschentücher. Als sie wiederkommen, weint Vincent nicht mehr.

Kai Hasner ist einer von drei Erziehern, die in der Kita des Humanistischen Verbandes in Berlin-Friedrichshain arbeiten. Mit dem Leiter und dem Koch sind es sogar fünf Männer, die sich mit zwei Erzieherinnen um knapp 40 Kinder kümmern.

Damit ist die Kita zunächst ein Exot in einer Frauendomäne – 97 Prozent aller ErzieherInnen sind weiblich.

Für Vincents Mutter Desiré Tillack sind die männlichen Erzieher ein Grund, ihren 15 Monate alten Sohn hierher zu geben: „Er lernt hier nicht dieses typische Rollenverständnis, dass sich die Frau um die Kinder kümmert und der Mann arbeitet.“ Zu Hause ist es oft umgekehrt, auch, weil der Mann meist besser verdient.

Vincent interessiert sich mittlerweile für die Matten, die Kai Hasner im Nebenzimmer aufschichtet. Das ist die „Sportstrecke für die unter Dreijährigen.“ Seine Kollegin Christina Heibrock füttert indessen Baby Elisa mit Brei. Sie überlegt: Nein, eine feste Rollenverteilung gebe es hier nicht. Jeder mache alles, was gemacht werden muss: vom Windeln bis zum Vorlesen.

Im Zimmer gegenüber ist die Rollenverteilung klarer: Zwei Mädchen und ein Junge sitzen unter dem Tisch, Marlene ist die Bestimmerin. Sie entscheidet, wer ins Versteck gelassen wird. Tassilo rückt mit einem Besen an, größer als er selbst – „kreiiiiisch“. Er fuchtelt bedrohlich mit dem Besen, als ein junger Mann mit Dreitagebart den Raum betritt. Tassilo schaut unsicher nach oben und lässt die Waffe sinken.

Mario Rösler zieht sich ein Stühlchen heran und setzt sich an den Tisch, die Knie ungefähr in Brusthöhe. Lars will, dass er ihm eine Eisenbahn zeichnet. Mario Rösler zeichnet mit links. „Hier musste noch eine Tür machen“, sagt der Erzieher zu dem Jungen. Wozu, will der wissen. „Für den Fahrer“, sagt Mario Rösler. Selbst männlichen Erziehern ist die Vorstellung einer Lokführerin offensichtlich fremd.

Mario Rösler sieht seinen Beruf nicht als Frauenberuf. „Ich komme gut mit Kindern klar und sie mit mir auch“, sagt er. In der Ausbildung waren sie 5 Männer unter 15 Frauen. Immerhin. Karriere? Mario Rösler ist es wichtiger, dass die Arbeit Spaß macht.

„Ich habe Mario gefragt: Was ist rot und stinkt nach Weißwurst?“ Ja, was? „Bayern“, sagt Moritz ernst. „Mario ist nämlich für Bayern, ich für Bremen.“ Moritz ist sechs. Er mag seinen Erzieher, aber noch mehr Werder Bremen. Er liebt auch Lego und hat ein echtes, scharfes Messer.

An Marlene dagegen ist alles rosa, Pullover, Rock, Strumpfhose. Sie schiebt einen Puppenwagen, in dem sitzt ihre Freundin. Beim Fasching war sie eine Prinzessin.

Jungen und Mädchen finden offenbar in allen Kitas – ob mit oder ohne männliche Erzieher – zu ihren Stereotypen. Soll man Jungen ermuntern, mit Puppen zu spielen? Und Mädchen, mit Baggern? Kitaleiter Marcus Zölzer lacht: Das wäre albern. Genauso wie eine Erzieherin, die gegen ihren Willen Fußball spielt. „Es gibt nichts Schlimmeres“, findet Zölzer. Nicht dass er gegen Frauenfußball sei – mit seinem Sohn war er auch schon bei Turbine Potsdam. Aber er möchte niemanden in eine Rolle zwingen. Geschlechtergerechte Erziehung heißt für ihn, individuell auf jedes Kind einzugehen, egal ob Junge oder Mädchen.

Irgendwann soll es in der Kita Werkstätten und Ateliers geben, die Kinder sollen frei entscheiden, womit sie den Tag verbringen. Ob sie dabei von Männern oder Frauen betreut werden, sei nicht entscheidend. „Dass jemand ein Mann ist, sagt ja nichts über die Qualität der Arbeit“, sagt Marcus Zölzer.

Doch zurzeit sind die Werkstätten noch eine Baustelle. Auch die Kita gibt es erst seit Herbst. Alles ist neu hier, die Kinder, die Arbeit, die Erzieher: Kai Hasner und Mario Rösler sind beide Berufsanfänger, Marcus Zölzer leitet zum ersten Mal eine Kita.

Wenn mehr Kinder aufgenommen werden, will er auf jeden Fall wieder eine Frau einstellen. „Nur 2 Erzieherinnen unter 5 Männern. Das ist doch zu wenig“, findet er. ANNA LEHMANN

*Namen der Kinder geändert