Extrem ehrlich

TENNIS Mit Andy Murray gewinnt erstmals seit 77 Jahren ein Brite das Finale von Wimbledon. Dessen Dank gilt wiederum dem knurrigen tschechischen Lehrmeister

Die Tat von Murray ließ das Königreich bis hinauf nach Schottland in Freude beben

AUS LONDON DORIS HENKEL

Manchmal ist es nicht das Härteste, Matchbälle zu verwandeln oder Breakbälle abzuwehren. Montagmorgen um kurz nach acht fuhr Andy Murray bereits wieder im All England Club vor, sportlich in blauer Trainingsjacke, Wasserflasche in der Hand. Er sah ein bisschen müde aus, wirkte aber insgesamt deutlich frischer als vor zehn Monaten.

Damals hatte er sich nach seinem Triumph bei den US Open, dem ersten Grand-Slam-Sieg seiner Karriere, auf dem Heimflug ein paar Gläschen Champagner gegönnt, und da er gewöhnlich keinen Alkohol trinkt, war die Wirkung bemerkenswert. Seine langjährige Freundin Kim Sears verriet der BBC für ein Porträt, der liebe Andy sei so durcheinander gewesen, dass er in der Bordtoilette beim Versuch, die Zähne zu putzen, Gesichtslotion erwischt habe.

Nun denn, diesmal ging offensichtlich alles gut. Mister Murray machte eine prima Figur beim Champions’ Dinner am Ende des größten Tages seiner Karriere, und dass er äußerlich im Vergleich mit der Gewinnerin des Frauentitels nicht punkten konnte, lag an deren unfairen Mitteln; Marion Bartoli trug halsbrecherisch hohe Louboutins und ein sehr, sehr, sehr kurzes Kleid.

Die Tat, mit der Murray am 7. 7. um 17.24 Uhr die 77 Jahre währende Wartezeit der Briten nach einem Sieger aus ihren Reihen beendete, ließ das Königreich bis hinauf nach Schottland in Freude beben. Die BBC erreichte mit mehr als 17 Millionen Zuschauern in der Spitze die mit Abstand höchste Einschaltquote des Jahres, und am Montag erschien keine Zeitung ohne das riesengroße Bild des glücklichen, stolzen Siegers auf der Titelseite. Die netteste Zeile fiel dem Boulevardblatt Sun ein: Endlich, nach 77 Jahren, 15 Premierministern und drei Monarchen – ein Brite gewinnt Wimbledon. Königin Elizabeth II. hatte bereits unmittelbar nach dem Sieg Glückwünsche geschickt, und falls Majestät der Forderung diverser Montagsblätter nachkommen sollte, den Triumphator zum Ritter zu schlagen, dann wird es irgendwann einen Sir Andrew Murray geben.

Der gestand nach dem Sieg gegen die Nummer eins des Tennis, Novak Djokovic (6:4, 7:5, 6:4), er sehe diesen ersehnten Titel vor allem als Belohnung dafür, sich beharrlich bemüht und hart gearbeitet zu haben. „Vermutlich ist das die Geschichte meiner Karriere. Ich musste ein paar harte Niederlagen verdauen, aber ich bin jedes Jahr ein bisschen besser geworden.“

Er tat alles, was dafür nötig ist. Aus dem ehedem fast unsportlich wirkenden jungen Mann wurde im Laufe der Jahre dank eines rigorosen Fitnesstrainings ein muskulöser Athlet mit bemerkenswerter Ausdauer, aber der entscheidende Schritt war mit einiger Sicherheit die Verpflichtung des knurrigen Altmeisters Ivan Lendl, für den es der erste Job als Coach war. Lendl gab damals beim Beginn der Zusammenarbeit im Januar 2012 zu, mit einem anderen hätte er sich das nicht vorstellen können; er sei sehr beeindruckt von dessen Professionalität. Murray sagt, einer der Grundlagen für die erfolgreiche Zusammenarbeit sei die Bereitschaft, sich gegenseitig auch unerfreuliche Dinge mitzuteilen. „Er ist extrem ehrlich zu mir. Wenn ich hart arbeite, ist er zufrieden. Tue ich das nicht, ist er enttäuscht, und dann sagt er mir das auch.“

Das Lob dieses Mannes bedeutete ihm nach dem Sieg mehr als viele andere zusammen. Er sei stolz auf ihn, ließ Lendl Murray wissen, und der wusste, dass er mit diesem Titel in gewisser Weise auch eine Lücke in der Karriere des Coachs geschlossen hatte. Denn Lendl gewann zwar acht Grand-Slam-Titel, aber trotz heißkalten Bemühens keinen in Wimbledon. „Natürlich hätte er es lieber selbst geschafft“, sagt Murray, „aber das hier ist bestimmt die zweitbeste Lösung für ihn – und das meine ich ganz ernst.“

Am Ende der glorios unberechenbaren 127. All England Championships blieb dann nur noch eine Frage. Ob er denn jetzt, nachdem er sein großes sportliches Ziel erreicht und die ganze Nation glücklich gemacht habe, daran denke, seine Freundin demnächst mit einem Heiratsantrag zu überraschen. Der Schotte wirkte kurz ein wenig verwirrt, dann meinte er in seiner gewohnt trockenen Art: Nein, darüber habe er noch nicht nachgedacht. Ha, da haben wir’s – so bald wird er die Vergleiche mit dem guten, alten Fred Perry wohl doch noch nicht loswerden. Der letzte Wimbledonsieger vor Andy Murray gewann ja nicht nur zwischen 1934 und 1936 drei Titel in Folge beim berühmtesten Tennisturnier der Welt, sondern er war auch viermal verheiratet. Es gibt also in jeder Hinsicht noch reichlich Arbeit.