Im Anti-Szene-Zirkus

Zwischen Kunstraum, Kellerclub und Stadtteilprojekt: Die Macher des West Germany am Kottbusser Tor lassen eine ehemalige Arztpraxis mit Hochgeschwindigkeitsveranstalterei in Schweiß ausbrechen

VON SASCHA JOSUWEIT

Wenn der Laden mal wieder so richtig brennt und das West Germany voll ist bis in den letzten gekachelten Winkel, fragt man sich nicht: Wie machen die das bloß? Sondern: Wie haben 200 Partymenschen bloß die Tür gefunden? Der Weg zu Kreuzbergs bestgehütetem Geheimnis in Sachen Veranstaltungskultur führt vorbei an den Drogengespenstern vom Kottbusser Tor, an Dönerbuden und einigen der finstersten Passagen, die die Postmoderne dem Flaneur hinterlassen hat. Mitten im „Problemquartier“ Neues Kreuzberger Zentrum, in den ehemaligen Räumen einer Arztpraxis im zweiten Stock, betreiben die vier Macher des West Germany, Stephan Kallage, Ingo Gerken, John Fitzgerald und Paul Carlin, ein Labor für angewandte Utopie und Verständigung in zeitgenössischer Kunst und Musik. Heißt: Hier haust das Tier. Hier läuft Schweiß und Bier. Kein White Cube hielte das aus auf die Dauer.

Gleich ob, wie in der olfaktorisch noch lange nachwirkenden letzten Schau, die eingeladenen Künstler Abfall und Sperrmüll vom Kotti in einer Ecke abladen und daraus eine beklemmende Mischung aus Berbernest und Hundezwinger zusammenschustern oder die kanadischen Underground-Helden Les Georges Leningrad mit kreischendem Elektropunk den Fugenspachtel zwischen den Kacheln zum Schmelzen bringen – immer ist der Raum mit seinen zertrümmerten Behandlungszellen unmittelbarer Bestandteil des Happenings. „Wir fangen nie ganz bei null an“, erklärt Ingo Gerken, der sich zusammen mit Stephan Kallage um den Hochgeschwindigkeitsausstellungsbetrieb kümmert: Ein Dutzend Shows gab es in bislang nur acht Monaten. Dazwischen noch einmal so viele Konzerte, von den Partys mal abgesehen. Ein nicht abreißendes Event-Zapping als fast klinische Versuchsanordnung. „Manchmal bauen wir mehrmals am Tag um, vom Kunstraum zur Konzertbühne und wieder zurück. Aber was hier passiert, hinterlässt seine Spuren und wird weiter verarbeitet.“ Spart das Ausfegen, macht Sinn aber auch deshalb, weil das West Germany mit seiner großzügigen Dachterrasse den Betreibern als ausgelagerte Wohnstube dient. Und zu Hause wirft man ja auch nicht alles gleich weg, was der Alltag so anschwemmt.

Der Kotti als Bühnenbild

Überhaupt, zu Hause! Über die von Kallage und Gerken sehr geschätzten Assoziationsketten gelangt man flugs zum nächsten Thema: Nachbarn. Ganz wichtig. Das West Germany sollte von Anfang an nicht bloß Statement sein gegen den Szene-Zirkus in den Ostbezirken. Die Künstler kommen natürlich von überall her, genau wie die Bands. Eine Aufgabenstellung aber, so formulieren es die vier unisono, war und ist, für den speziellen Ort und seine Anwohner offen zu bleiben. Die beiden Iren John Fitzgerald und Paul Carlin mit ihren weitreichenden Verbindungen in die Londoner und New Yorker Musikszene legen darauf großen Wert. Als Mitbetreiber des inzwischen geschlossenen Zentral in Mitte haben sie die Erfahrung gemacht, dass die Leute nicht wirklich warm werden mit einem Ort, der mit seiner unmittelbaren Umgebung keinen Austausch unterhält: „Nach den Konzerten gingen alle nach Hause oder in ihre Stammkneipe, das ist hier anders.“ Man holt türkische Bands und DJs auf die Bühne, nutzt den Kotti als Bühnenbild für ein Update von Puccinis Oper „La Bohème“ und pflegt gute Nachbarschaft mit einem Lernzirkel für türkische Mädchen.

Beim Tee mit Herrn Aktürk, der unten im Haus einen Imbiss betreibt und den Lernzirkel ehrenamtlich betreut, geht es darum, dass die Klos repariert werden müssen und das Treppenhaus von Tags befreit, weil das für die Schülerinnen „kein schöner Anblick“ ist. Man nimmt das in Angriff, auf eigene Faust, aus eigener Tasche. Wegen neuer Lehrmittel will man vielleicht ein Solikonzert organisieren.

Die Miet-Konditionen sind zwar vergleichsweise günstig, aber ohne Spenden, von den Künstlern selbst mitgebrachte Projektförderung und die Untervermietung der Räume für private Events ginge trotzdem nicht viel. Für das Ausfüllen von Förderanträgen fehlte bisher einfach die Zeit. Am einmal vorgelegten Tempo wollen die vier Betreiber dennoch unbedingt festhalten. Und am liebsten noch viel weiter ausschreiten: „Freaky Turkish Rock ’n’ Roll“ und „New Wave Noise“ aus dem Libanon sind für Carlin und Fitzgerald die Floorfiller von morgen. Jetzt müssen die beiden aber erst mal los: Plakatekleben für das nächste Konzert, und, wer weiß, vielleicht ja auch für das Veranstaltungskonzept von morgen. Irgendwo zwischen Kunstraum, Kellerclub und integrativem Stadtteilprojekt.

Kontakt: westgermany@gmx.de11. 3.: Indie-Legenden The Faith Healers