Der Schatten duzt seinen Herrn

DICHTERLEBEN Zwischen Größenwahn und Selbsterniedrigung: Stefan Pucher inszeniert „Andersen. Trip zwischen Welten“ in Hamburg

Bruno Cathomas läuft nackt und voll Stolz durch die Gänge des Theaters, bejubelt von einem Hofstaat aus Schneiderinnen

Bilderfülle herrscht an diesem Abend im Thalia-Theater Hamburg. Ein Mix aus Text, Video, Schauspielern, mit einem Touch filmischer Traumfabrik. Aber auch morbides Märchenuniversum mit Anleihen an düstere Bibliothekskabinette und ihre geheimen Verstecke. In Gehröcken und Vatermörderkragen, wie sie zu Lebzeiten Hans Christian Andersens Mode waren, tauchen dann zwei Erzähler auf, die dandyhafte Lässigkeit aufsetzen, aber auch ein blutlippiges Grinsen, als wären sie Vampire, die zu nächtlicher Stunde in dunklen Räumen spazieren.

Düster bleibt es allerdings nicht lange. Im Licht, das schon bald voll aufgedreht wird, entpuppt sich der Raum als ein weiß glänzendes Plastikrelief, mit Tisch, Brüstungen und einer kleinen Treppe Richtung Hinterzimmer, ein Ort der Verwandlung und der Projektion. Immer wieder schnurren lautlos zwei der großen Vertäfelungen zur Seite und machen Platz für Filmleinwände. Die Kamera zoomt anfangs auf ein Haus mit vielen Wohnungen und Fenstern: Man sieht, wie sich zwei Männer schlagen, Frauenhände ziehen Blutschlieren an Fenstern oder jemand schreckt albtraumgepeinigt aus Laken hoch. Und doch erweist es sich schon bald als trügerisch, dass man in Stefan Puchers „Andersen. Trip zwischen Welten“ hinter Fassaden schaut in das Verborgene, die düstere und verdrängte Seite des Lebens. Womöglich gar in ein geheimnisvolles Künstlerleben wie das des Märchenerzählers Hans Christian Andersen, seine Angst, verkannt zu werden, und seine unterdrückte Homosexualität.

Gleich in der ersten Szene hangelt sich Mirco Kreibich in seinem Biedermeierkostüm an diesem Plastikreliefzimmer entlang. Balanciert schwankend von kleinen Simsabsätzen hinüber zu dem mannshohen Tisch, auf den er wie ein beinzappelnder Däumling mühsam hochkrabbelt und sich mit erleichtertem Seufzen niedersetzt. Diese Nummer erzählt schon alles, was Stefan Pucher am Andersen-Stoff interessiert: das Pendeln zwischen Größenwahn und Selbsterniedrigung, das in seinen Märchen, aber auch in der Kunst und im Theater zu Hause ist.

In einer schönen Variation wird das auch noch einmal in einer Videoeinspielung erzählt: Bruno Cathomas läuft nackt und voll Stolz durch die Gänge des Theaters, bejubelt von einem Hofstaat aus Schneiderinnen. Erst wenn ihm diese weibliche Zuschauerschaft abhandenkommt, wird er sich der Nacktheit bewusst. Ein kleines Vexierspiel des Sichzeigens und Gesehenwerdens, in das Cathomas selbstironisch das Hadern mit dem eigenen Körper einbringt.

Als Rahmenhandlung dient jenes Andersen-Märchen vom Schatten, den ein Mann aussendet, um – angezogen vom Bild einer schönen Frau – das Haus gegenüber auszukundschaften. Der Schatten macht sich selbstständig, läuft seinem Herrn davon und nimmt schließlich seinen Platz ein. Karin Neuhäuser spielt diesen Schatten, halb Frau, halb als Mann maskiert, mit geheimnisvoller Autorität. Der Schatten duzt seinen Herren, der siezt zurück und leidet.

An diese sinnfällige Szene der Demütigung reihen sich dann aber immer mehr privatistische Nummern: Catherine Seifert beklagt hypochondrisch ihre Makel. Cathomas dekliniert Texte von Rolf Dieter Brinkmann über die Einsamkeit. „Alleinsein ist wie die Mülltonne, in die nichts mehr reinpasst.“ Spätestens hier teilt „Andersen. Trip zwischen Welten“ das Schicksal des Schattenwerfers und spaltet sich auf: in Inspirierendes und in die misslingenden Einlagen, die dieses stürmische Projekt hart auf den Boden holen.

Stefan Pucher hat den Ruf, als Regisseur auf der Bühne an nichts zu sparen und in Überblendungen das Verhältnis zwischen Wirklichkeit, Wunschbildern und erzählerischer Fiktion auszuloten. Aber das Mehr an Mitteln bringt diesmal weniger. Die musikalische Dauerberieselung durch Carsten „Erobique“ Meyer und Matthias Strzoda erweist sich sogar als echtes Problem: viel zu viel nette Untermalung, zu wenig Haltung gegenüber dem Bühnengeschehen. Den Songeinlagen fehlt die Doppelbödigkeit, die Pucher in einigen Szenen aus Andersen herauskitzelt. Je mehr die Musik überhandnimmt und die Schauspieler sich als Privatpersonen thematisieren, desto weniger bleibt von dem anfangs so überraschenden Vexierspiel.

SIMONE KAEMPF