Haftstrafe für Eltern

Hamburger Landgericht verurteilt Mutter und Vater, deren zweijährige Tochter nach schwerer Vernachlässigung gestorben ist. Eine Sozialarbeiterin hatte bei ihren Besuchen nichts bemerkt

Richter: „Michelle hätte gerettet werden können“

Von Elke Spanner

Die Eltern der kleinen Michelle kommen ins Gefängnis. Das Hamburger Landgericht ist gestern über die Forderung der Staatsanwaltschaft hinausgegangen und hat Nicole G. und Andreas J. zu drei Jahren Haft verurteilt. Deren zweijährige Tochter Michelle war im Sommer 2004 gestorben, nachdem die Eltern sie trotz schwerer Mandelentzündung rund 23 Stunden unbeaufsichtigt ließen (taz berichtete). Der Staatsanwalt hatte nur eine zweijährige Bewährungsstrafe verlangt. Das Gericht aber machte keinen Hehl daraus, dass es sogar erwogen hatte, den Fall dem Schwurgericht vorzulegen. Dann hätte den Eltern eine Verurteilung wegen Totschlages gedroht – und eine sehr viel höhere Freiheitsstrafe.

Die Eltern waren sichtlich geschockt. Nicole G. und Andreas J. hatten im Prozess zwar eingeräumt, Fehler begangen zu haben. Nicht nur Michelle, auch ihre fünf Geschwister haben sie schwer vernachlässigt. Alle weisen erhebliche und tief greifende Entwicklungsstörungen auf. Die Verantwortung für den Tod des kleinen Mädchens hatten sie hingegen von sich gewiesen. Die schwere Krankheit, behaupteten sie, hätten sie nicht erkannt.

Die Verteidiger hatten in ihrem Plädoyer sogar verlangt, den Vorwurf der fahrlässigen Tötung fallen zu lassen und ihre Mandanten nur wegen Vernachlässigung der Sorgfaltspflicht zu bestrafen. Das Gericht aber hielt den Eltern vor, dass ihre Tochter hätte gerettet werden können, wenn sie das Mädchen ordentlich ernährt und schlichtweg „mal nach ihr geguckt hätten“. Stattdessen hatte Nicole G. Michelle mit einer der Schwestern 23 Stunden lang im Kinderzimmer eingesperrt. Ihre Mutter, so der Vorsitzende Richter, „hatte Michelle vergessen“.

Und das nicht zum ersten Mal. Michelle, hatte ein medizinischer Gutachter ausgeführt, muss seit Wochen nur noch gelegen haben. Ihr Tod gehe auf eine „lang andauernde, schwere Vernachlässigung“ zurück. Auch die anderen Kinder hätten in der Familie gelitten. Immer wieder waren sie lange Stunden in ihren Zimmern eingesperrt, die „menschenunwürdig“ gewesen seien: Voller Kot, Schimmel, Fliegen, selbst die Betten mit Mülltüten voll. Das Essen, sagte der Richter, wurde dort von außen „wie in einen Käfig“ hineingereicht, die Eltern hätten nicht einmal kontrolliert, ob auch alle Kinder etwas abbekommen hatten. Hätten die Kinder gerufen und geklopft, hätten Vater und Mutter zumeist nicht reagiert. Die Kinderzimmer hätten sie irgendwann gar nicht mehr gereinigt, obwohl der Gestank „bestialisch“ war. Um den erbärmlichen Zustand vor den Nachbarn zu verbergen, war das Fenster des Mädchenzimmers mit einer dunklen Decke verhängt. „Sie haben sich vor den Nachbarn für den Dreck geschämt.“

Bei der 28jährigen Mutter erkannte das Gericht an, dass sie mit ihren sechs Kindern überfordert war. Um so mehr sei ihr aber vorzuhalten, dass sie jegliche Hilfe abgelehnt hatte. Regelmäßig kam eine Sozialarbeiterin. Statt deren Unterstützung anzunehmen, hatten die Eltern ihr Kooperation nur vorgegaukelt. Sie haben sogar die angebotene Haushaltshilfe abgelehnt, während sich in den Kinderzimmern schon der Müll stapelte. Hilfe hätten die Eltern nicht als Unterstützung, sondern als Bevormundung empfunden. Vor Gericht hatten sie eingeräumt, dass sie sich „von diesen Leuten“ nichts sagen lassen wollten.

Dem 35jährigen Vater warf das Gericht vor, sich vollkommen aus der Verantwortung gezogen und seine Frau im Stich gelassen zu haben. Er habe sich für seine Kinder nicht interessiert, wisse nicht einmal deren Geburtsdaten und zweite Vornamen. Die Woche über arbeitete er als Altenpfleger im Schichtdienst, so dass er nur begrenzt zuhause sein konnte. Die Wochenenden aber hätte er zumindest bei seiner Familie verbringen können. Stattdessen habe er ehrenamtlich für den Arbeiter-Samariter-Bund gearbeitet. Seine Frau, so das Gericht, habe er überhaupt nicht unterstützt – nur dabei, die katastrophalen Zustände in der Familie nach außen hin zu verbergen.

Mit dem Urteil ist der Fall juristisch jedoch nicht abgeschlossen. Die Anwälte der Eltern erwägen, Rechtsmittel einzulegen. Und wahrscheinlich werden sich auch ein Mitarbeiter des Jugendamtes und zwei Sozialarbeiterinnen, die regelmäßig in der Wohnung waren, noch vor Gericht verantworten müssen. Die Staatsanwaltschaft ermittelt gegen sie, weil sie auf die katastrophalen Zustände in der Familie nicht hinreichend reagierten. Die Betreuerin, die zuletzt mehrere Stunden die Woche in der Wohnung war, hatte eingeräumt, niemals in die Kinderzimmer geguckt zu haben. Das Landgericht zeigte sich offen befremdet über die Arbeit dieser Betreuerin. „Das Ausmaß der Verwahrlosung war ihr nicht bekannt, sie bemerkte auch nicht die Entwicklungsverzögerungen aller Kinder“, so das Gericht. Sie hätte den Lügen der Mutter schlichtweg geglaubt und deren Behauptungen nicht einmal hinterfragt. So hätte sie sich nie beim Kindergarten erkundigt, ob die Kinder dort tatsächlich morgens hingebracht würden, oder beim Werner-Otto-Institut nachgefragt, ob der älteste Sohn dort zur Logopädie angemeldet sei. Auch dass die Mutter immer häufiger Termine absagte, irritierte die Sozialarbeiterin offenbar nicht. „Die gab sich leider damit zufrieden.“

Seit Michelles Tod leben die übrigen Kinder im Heim. Nicole G. ist nun erneut schwanger. Mitte März erwartet sie ihr siebtes Kind. Der Staatsanwalt hat in seinem Plädoyer bereits angedeutet, dass den Eltern wohl auch für dieses Kind das Sorgerecht entzogen wird.