Rückkehr in den Moloch

Die Innenstädte werden wieder attraktiver, glauben viele Experten, besonders für Angehörige der wohlhabenden, gebildeten Mittelschicht. Kurze Wege ermöglichen es, Arbeit und Leben, Familie und Beruf zu vertakten. Nährboden für kreative Berufe

Von Gernot Knödler

In der Hamburger Innenstadt werden um 20 Uhr die Bürgersteige hochgeklappt. Gähnende Leere und bestürzende Langeweile herrscht dann im Herzen der zweitgrößten Stadt Deutschlands. Ein Zustand, der paradigmatisch ist für eine Jahrzehnte währende Stadtflucht, bei der hunderttausende Familien ihr Heil in Vororten suchten.

Den Großstädten hingegen liefen die guten Steuerzahler davon, während sich ein Heer von Schlechterverdienenden und Armen in ihnen sammelte. Nach Ansicht vieler Forscher zeichnet sich jetzt eine Gegenbewegung ab: Die wohlhabende und gebildete Mittelschicht kommt wieder zurück.

„Die Deutschen entdecken die Qualität des Stadtlebens wieder, die Innenstadt als lebenswerten Wohnraum, in dem sich Menschen wohl fühlen können“, behauptet der Zukunftsforscher Horst Opaschowski. Nach jahrelangen Bevölkerungsverlusten nehme die Einwohnerzahl innenstadtnaher Quartiere in einigen Städten wieder zu, stellt das Deutsche Institut für Urbanistik (Difu) fest. „Suburbia passt heute nicht mehr“, sagt der Stadtökonom Dieter Läpple von der Hamburger Hafencity-Universität.

Die Menschen denken und fühlen anders gegenüber der Stadt als früher. Die Städte sind freundlicher geworden: weniger Enge, weniger Lärm, weniger Gestank. Sie bieten Raum für eine Vielfalt von Lebensstilen. Und es gibt wieder Jobs – Arbeitsplätze, die auf dem Nährboden der Stadt am besten gedeihen. „Das bedeutet aber noch nicht das Ende der Randwanderung“, warnte der Stadtökonom Läpple vor der Hamburger Architektenschaft. Und bei dem prognostizierten allgemeinen Bevölkerungsrückgang werden nicht alle Städte von der Trendwende profitieren.

Hamburg zum Beispiel wird wachsen, wenn auch nicht so sehr wie viele Kommunen im Umland. Nach den Zahlen, die die Bertelsmann-Stiftung in ihrem „Wegweiser Demographischer Wandel“ zusammengetragen hat, wuchs die Hansestadt zwischen 1996 und 2003 um 1,5 Prozent. Zwischen 2003 und 2020 wird ein Plus von 2,8 Prozent erwartet. Bremen schrumpfte in den vergangenen Jahren um 0,7 Prozent – der Trend gilt jedoch als umgekehrt, für die kommenden Jahre wird ein Wachstum von 0,7 Prozent prophezeit. Nur Hannover schrumpft scheinbar unaufhaltsam – bis 2020 um 1,8 Prozent, so die Prognosen.

Seine These, dass die Kernstädte zulegen, stützt Hasso Brühl, einer der Autoren der difu-Studie, auf Erhebungen des Bundesamtes für Bauwesen und Raumforschung (BRR). „Da zeigt sich, dass die Innenstädte nicht mehr ausbluten“, sagt Brühl. Das BRR rechnet in seiner Prognose bis 2015 damit, dass mehr Geschosswohnungen und weniger Ein- und Zweifamilienhäuser gebaut werden. Die Innenstadtquartiere Münchens und Leipzig, die im Mittelpunkt der difu-Studie standen, sind gefragt und die vielen Mütter im Berliner Prenzlauer Berg legendär.

„Das Wohnungsleitbild hat sich geändert“, sagt Brühl. Das Eigenheim habe als Statussymbol an Bedeutung eingebüßt. Weil auch gut ausgebildete Leute nicht mehr davon ausgehen können, dass ihr Job auf 30 Jahre hinaus sicher ist, fragen sich viele, ob sie sich mit einer Hypothek belasten sollen. Dazu kommen die Kosten fürs Pendeln. Der Sprit ist teurer geworden, die Pendlerpauschale geringer.

Für manchen Vorort kann das zum Problem werden. Denn der schwächelnde Drang zum Eigenheim überlagert sich mit der Schwäche der Alterskohorten zwischen 25 und 40 Jahren, die die bestehenden Einfamilienhaussiedlungen auffüllen müssten. „Der Suburbanisierung geht das Personal aus“, so Stadtökonom Läpple. Zumal auch die Generation 45-Plus wieder „mitten im Leben“ wohnen wolle, wie Opaschowski feststellt. WGs und Mehr-Generationen-Häuser finden viele attraktiver als auf dem Land zu vereinsamen.

Für die Jungen passen weite Wege zum Job nicht zu einem Lebens- und Arbeitsstil, den Läpple mit dem Begriff „Entgrenzung“ beschreibt: Die Normalarbeitszeit löst sich auf. Eine enge Verzahnung zwischen Arbeit und Leben, wie sie bis dato für Freiberufler typisch gewesen ist, wird zum allgemeinen Modell bei gut qualifizierten Erwerbstätigen. Für Paare und Familien wird es schwieriger, verschiedene Zeitpläne aufeinander abzustimmen. Weite Wege verkomplizieren das Problem: Sie fressen Zeit.

In den westdeutschen Kernstädten ist der Anteil der Frauen an den Beschäftigten zwischen 1980 und 2002 um gut 15 Prozent gewachsen, wie Läpple ermittelt hat. Wenn Mann und Frau unter den beschriebenen Bedingungen Leben und Arbeit unter einen Hut bringen müssen, tun sie sich in der Stadt leichter: Zwischendrin das Kind zum Klavierunterricht bringen, wo es dann vom Partner abgeholt wird – das geht nur in der Stadt. Zugleich brauchen viele Jobs der neuen wissensbasierten Wirtschaft ein städtisches Umfeld. „Nicht die Nähe, sondern die soziale Einbettung ist dabei entscheidend“, sagt Läpple. Wer Verpackungen entwirft, Werbung macht oder Internetseiten baut, muss wissen, was angesagt ist.

Der Hamburger Architektenschaft zeigte Läpple einen Stadtplan mit den Niederlassungen der Multimedia und IT-Firmen. Sie klumpten sich in den Szenevierteln der inneren Stadt wie Ottensen und Eimsbüttel. Während des Booms der New Economy Ende der 1990er/Anfang der 00er-Jahre sei die Zahl der Beschäftigten in Hamburg zum ersten Mal seit langem stärker gewachsen als im Speckgürtel.

Könnten sie es sich aussuchen, würden nur 3,8 Prozent des difu-Untersuchungsgebietes in Leipzig und 6,8 Prozent des Gebietes in München ins Umland ziehen. Im Gegensatz zu früheren Generationen könnten es sich viele von ihnen vorstellen, Kinder in der Innenstadt aufzuziehen, sagt Brühl.

Oft finden sie aber keine Wohnungen, die ausreichend groß und bezahlbar wären. Aufgelassene Industrie-, Bahn- oder Hafenareale bieten den Städten die Chance, solche Familien zu halten. Doch in der Regel sind die Wohnungen dort so teuer wie in den beliebten Gründerzeit-Vierteln. Der von Brühl ausgemachte Trend, dass sich Menschen mit gleichen Anschauungen und Lebensstil in bewusst gewählten Quartieren zusammenfinden, verstärkt sich durch Mieten und Preise. Arme Schichten werden in weniger attraktive Viertel abgedrängt.