Ach nee, Berlin, du schon wieder

Bloß keine Liste anlegen: Lesebühnentexte machen Spaß, man sollte nur sparsamer damit umgehen oder mehr Erfahrung reinpumpen. Denn das Genre neigt zu Wiederholungen und Redundanz, wie zwei neue Bücher zeigen

Seit über zehn Jahren schon trifft sich die Reformbühne „Heim und Welt“ im Kaffee Burger, zum Jubiläum gab es ein Lesebuch: „Volle Pulle Leben“ versammelt Geschichten aus den vergangenen Jahren. Herausgeber Falko Hennig blickt im Prolog schamvoll auf die frühen Lesebühnentage zurück und distanziert sich von Alkoholverherrlichung und Kollegendemütigung der Anfangszeiten. Bescheiden weist er darauf hin, dass eigentlich nicht der Reformbühne, sondern der noch älteren Lesebühne „Dr. Seltsams Frühschoppen“ der Ehrentitel „Mutter aller Lesebühnen“ gebührt.

Dabei sind doch sowieso alle Berliner Lesebühnen mehr oder weniger miteinander verwandt. Jeden Donnerstag zum Beispiel treffen sich „Die schönsten Schriftsteller Berlins“, so der Untertitel der „Chaussee der Enthusiasten“, im Friedrichshainer Raw-Tempel, und auch sie hatten die Idee, ihre Wortbeiträge in Buchform für die Ewigkeit festzuhalten. Eine schöne Gelegenheit, beide Produkte miteinander zu vergleichen.

Der Lesebühnenautor, in den meisten Fällen der unvermeidliche Icherzähler, berichtet gerne in kurzen Texten aus seinem Leben, von den Eltern, der DDR-Kindheit und dem Prenzlauer Berg. Die stetige Ichform und das ewige Präsens geben den Geschichten dabei leider etwas Kunstloses, geradezu Banales. Zu kleinen formalen Abweichungen kommt es da höchstens mal, wenn die Schriftsteller dem beliebten Jungshobby des Listenmachens nachgehen. Für die Reformbühne legt Jürgen Witte seine Liste der berühmten Weltverschwörungstheorien vor, im Chaussee-Buch stellt Dan Richter die Hitparade der unangenehmen Personen im Schwimmbad auf. Auch eine gewisse Anbiederung an die musikalische Popkultur ist den Anthologien gemein, The Smith, Tocotronic, Sonic Youth, Blumfeld werden gerne zitiert.

Weil es sich bei „Die Chaussee der Enthusiasten“ um eine reine Männerveranstaltung handelt, kommt das andere Geschlecht auch nur am Rande vor. Frauen müssen rumgekriegt oder beeindruckt werden, sind notwendige Partnerin zum Sex, der dann doch nicht stattfindet. Die weibliche Hauptrolle spielt in den Lesebühnengeschichten eigentlich immer nur eine: Berlin. In seinem sehr lustigen Horrortext „Der Fluch der Schönhauser Arcaden“ vermittelt Volker Strübing einen paranoiden Blick auf die Stadt. Da wird der schutzlose Großstadtbewohner verfolgt von Straßenmusikern, Tierschützern, Motz-Verkäufern, FAZ-Promotern und Körperfettmessern, die Situation eskaliert und verkehrt sich ins Absurde.

Man hat dem jungen Genre den Vorwurf gemacht, es arbeite zu sehr auf die Pointe hin, bei der „Chaussee der Enthusiasten“ aber bleiben viele Texte seltsam pointenlos und versanden ganz unethusiastisch im Nichts. Die interessanteren Texte finden sich in „Volle Pulle Leben“, was daran liegen mag, dass hier, ältere, schon berühmt gewordene Autoren, die aus einem größeren Textfundus auswählen können, versammelt sind.

So beweist Judith Hermann einmal mehr ihre Feinsinnigkeit, wenn sie die hölzerne Naht einer Nussschale beschreibt, Tanja Dückers liefert ein interessantes Sexgedicht und Innenansichten vom Neuköllner „Zauberkönig“. Diese „bekannteren“ Autoren, darunter auch Wiglaf Droste, Wladimir Kaminer und Jakob Hein, haben das alte Lesebühnenmilieu (Kneipe – Bier – Prenzlauer Berg) verlassen und schreiben jetzt über melancholische Lesereisen. Da kommt es zum Tulpenzwiebelkauf in Amsterdam, zur schlimmen Lesung in Belém, da steht die Autorin wie bestellt und nicht abgeholt in Pößneck. Da beißt sich die Katze in den Schwanz – warum soll es den Autoren anders ergehen als herumreisenden Musikern? Die schreiben ja auch Stücke darüber, wie es ist, auf Tour zu sein, bringen Songs auf CD und gehen damit wieder auf Tour usw.

Jedenfalls kann man dem Werbetext des Goldmann Verlages, „Volle Pulle Leben“ sei „ein originelles Lesebuch der jungen deutschen Literatur mit Backstage Einblick“, sogar bedingt zustimmen. Als neue Form der großstädtischen Abendunterhaltung hat sich die Lesebühne ja schon prima etabliert. Trotzdem entsteht mit jedem weiteren Lesebühnenbuch ein immer lauter werdendes Gefühl der leisen Übersättigung. Ein Gefühl, das sagt, man habe nun schon genug Stadt- und Lachgeschichten aus dem wunderbaren Alltag der herrlich verrückten Lesebühnenautoren gelesen. Und so wünscht man dem noch recht jungen Genre und seinen sympathischen Vertretern, sie mögen bald ein paar neue, andere Stimmen und Themen finden.

CHRISTIANE RÖSINGER

Falko Hennig (Hg), „Volle Pulle Leben. Zehn Jahre Reformbühne Heim und Welt“. Goldmann Manhattan, 7,95 € Chaussee der Enthusiasten, „Die schönsten Schriftsteller Berlins erzählen was!“ Voland & Quist, 12,80 € (mit CD)