Der mit dem Seehund spricht

Karl-Heinz Kolle hat einen Auftrag: Er rettet Robben, die bei stürmischer See verloren gehen. Jetzt ist Wurfzeit an der Nordseeküste

Als die Population schrumpfte, kamen die Tiere auf die Rote Liste. Heute leben 12.000 Seehunde entlang der deutschen Nordseeküste – so viele wie seit hundert Jahren nicht mehr

AUS FRIEDRICHSKOOG UND BÜSUM MICHAEL SAURER

Das Watt hat eine Stimme, und wenn man ihr gut zuhört, dann kann man sie verstehen. Karl-Heinz Kolle versteht sie wie kein anderer, und das Watt versteht ihn. Letztes Jahr ist es ihm passiert, dass er inmitten eines kleinen Entwässerungskanals die Hilfeschreie eines Seehundbabys hörte, es aber nicht sehen konnte. „Öi, öi“, machte Kolle und imitierte damit die Laute des Muttertiers. „Öi, öi“ schallte es aus dem Watt zurück. Langsam kam der kleine Seehund aus seinem Versteck und robbte sich bis an die Füße von Kolle heran. Ein Freund von ihm stand daneben und schüttelte ungläubig den Kopf. Seither nennen sie ihn scherzhaft „Der mit dem Seehund spricht“.

Es ist ein Montag im Juni und Karl-Heinz Kolle macht das, was er zu dieser Jahreszeit beinahe täglich macht. Ganz vorsichtig, das Seehundbaby soll ja nicht verletzt werden, packt er den etwa drei Tage alten Seehund am Hinterteil, trägt ihn über die Straße und lässt ihn langsam auf die Ladefläche eines Lieferwagens gleiten. Die kleine Robbe winselt, es klingt wie eine Mischung aus Hundejaulen und dem Meckern eines Menschenbabys. Karl-Heinz Kolle ist ein Schrank von Mann. Groß, breit, riesige Hände. Für diese wenigen Sekunden sind sie ganz sanft geworden.

Zur Auffangstation

Im Bus nimmt Janne Sundermeyer den Heuler in Empfang. Die Mitarbeiterin der Seehund-Auffangstation in Friedrichskoog wäscht ihm das Gesicht, inspiziert Augen und Ohren, flößt ihm über einen Schlauch etwas Wasser in den Mund. „Die dehydrieren sehr schnell und brauchen viel Flüssigkeit“, sagt sie.

Karl-Heinz Kolle macht Schluss für heute, ein stressiger Tag liegt hinter ihm. Eigentlich ist heute Ruhetag in dem Restaurant, das der gelernte Küchenmeister im Nordseebad Büsum betreibt. Doch die Seehunde gönnten ihm keine Pause. Gleich zwei hat der 50-Jährige an diesem Tag eingefangen und dem Team der Auffangstation übergeben. „Ich muss jetzt erst mal duschen, ich rieche selber schon wie ein Seehund.“

Die Rettungsaktion vom Morgen steckt Kolle noch in den Knochen. Auf einer Offshore-Plattform in der Nordsee war ein Robbenbaby gesichtet worden. Schwieriges Terrain. Bei Ebbe kann man dort hinauslaufen, doch vor dem Auslaufen der Flut rechtzeitig zurück zu sein, ist schwierig – mit einem Seehund auf der Schulter umso mehr. Also fuhr Kolle mit einem Zubringerboot der Betreiberfirma auf die Plattform, um das Robbenbaby einzusammeln. Ohne Hilfe von jemandem wie Kolle würde es sterben.

Heuler heißen die Seehundbabys, die ihre Eltern in den Weiten der oft stürmischen See verloren haben. Der Name kommt von den winselnden Lauten, mit denen sie Kontakt zu ihrer Mutter herzustellen versuchen. Meist sind sie nur wenige Tage alt und können sich nicht selbst ernähren. Sie sind auf Helfer wie ihn angewiesen. Kolle ist einer von 27 ehrenamtlichen Seehundjägern an den Küsten Schleswig-Holsteins.

Seehundjäger, eine Bezeichnung, die nach Filzhut und Schrotflinte klingt, aber tatsächlich eine ganz andere Bedeutung hat. In anderen Bundesländern heißen sie Seehund-Beauftragte, das klingt politisch korrekter. In Schleswig-Holstein hält man an dem alten Namen fest, der früher auch Programm war. Bis in die 1970er Jahre hinein wurden Robben, zu denen neben den Seehunden auch Tiere wie Seelöwen oder Walrösser gehören, gejagt. Hauptsächlich des Fells wegen, aber auch ihr Fleisch wurde gegessen.

Als die Robbenpopulation durch Bejagung und die zunehmende Umweltverschmutzung schrumpfte, kamen die Tiere auf die Rote Liste und dürfen seither nicht mehr getötet werden. Um die 1.500 Tiere lebten in den 1970er Jahren auf den Sandbänken entlang der deutschen Nordseeküste. Heute sind es nach vorsichtigen Schätzungen um die 12.000 – so viele wie seit hundert Jahren nicht mehr.

Die Seehundjäger haben ihren Beitrag dazu geleistet. Sie sind diejenigen, die sich um die verlassenen Robbenbabys kümmern. Meistens werden sie telefonisch über einen Fund informiert, dann heißt es, so schnell wie möglich ausrücken, um die Lage zu checken. Findet Kolle den Heuler, unternimmt er in der Regel gar nichts, die Mutter könnte ihr Kind ja doch noch finden.

Erst wenn er nach einigen Stunden oder gar am nächsten Tag immer noch verlassen da liegt, ist rasches Handeln geboten. Er inspiziert das Tier dann auf Krankheiten und Verletzungen. Nur Tiere, die eine realistische Überlebenschance haben, werden von Kolle nach Friedrichskoog übergeben. Ist das Tier aber stark verletzt und praktisch nicht mehr zu retten, greift Kolle zum Revolver. Es ist ihm unangenehm darüber zu sprechen – aber vor allem schmerzt es ihn. „Das ist einfach keine schöne Sache.“

Wie alle Seehundjäger hat Kolle einen normalen Jagdschein. Ab und zu geht er auf die Pirsch nach Hasen, Rehen und Fasanen. Kein Problem. Aber einen Seehund zu töten, falle ihm schwer, sagt er.

Was ist es, das ihn an den Tieren so fasziniert? Kolle bückt sich, seine Schultern sacken nach vorne, sein Mund formt sich zu einer Schnute. Mit beinahe kindlicher Stimme sagt der sonst eher herbe Norddeutsche: „Schauen Sie doch mal die Äuglein an.“

Am nächsten Morgen geht es früh los. Kontrollfahrt. Routine für Kolle, besonders zwischen Juni und Juli, der Wurfzeit der Seehunde. Mit seinem großen Ford Ranger fährt er langsam den schmalen Küstenstreifen am Rand des großen Deichs vor der Büsumer Küste entlang. Schafherden blockieren den Weg, Kiebitze und Austernfischer, kleine schwarz-weiße Vögel mit einem markanten roten Schnabel, brüten am Wegesrand und versuchen lautstark, ihre Nester zu verteidigen. Fahren darf man hier nur mit einer Ausnahmegenehmigung.

Sein Paradies

Plötzlich bleibt Kolle stehen. „Was ist das?“, fragt er. Er parkt den Wagen, steigt aus. Ein weißes Fellbüschel liegt im Grasland, das an das Watt anschließt. Kolle greift zum Fernglas. „Genau so sieht ein ganz junger Heuler aus. Die haben oft noch ihr Embryonalfell.“ Doch in diesem Fall gibt er Entwarnung. „Da hat nur ein Schaf sein Fell verloren.“ Sein Blick schweift über das Watt, im Hintergrund dreht ein Krabbenkutter seine Runden. „Für mich ist das hier das Paradies“, sagt Karl-Heinz Kolle. Das Blöken der Schafe, die Rufe der Möwen, der Wind und das Plätschern der Wellen im Hintergrund vereinen sich zu einer Symphonie, die hervorragend zur Monotonie der Landschaft mit ihrem schlickigen Watt, den grünen Deichen und der rauen See passt. „Ich kann hier kilometerweit schauen, das gibt mir eine unheimliche Ruhe. Es ist einfach ein Gefühl von Heimat.“

20 Seehunde hat Kolle im vergangenen Jahr nach Friedrichskoog gebracht. Nur ein Bruchteil der Tiere, die die Seehund-Auffangstation insgesamt aufpäppeln musste. „Letztes Jahr hatten wir hier um die 160 Heuler“, sagt Jan Dohndorf, einer der fünf fest angestellten Mitarbeiter der Station. Auch er ist ausgebildeter Seehundjäger. Die Station hat in dieser Wurfsaison wieder viel zu tun. Bislang, Stand Anfang Juli, sind 150 Tiere eingeliefert worden, täglich kommen neue hinzu. Der lange Winter hat auch die Wurfzeiten der Seehunde nach hinten verschoben.

Mehrmals am Tag werden die Heuler in Friedrichskoog gefüttert. Die Jüngsten bekommen reine Milch, bei den Älteren wird immer mehr Fisch untergemischt. Die Tiere sollen aufs Leben im Meer vorbereitet werden. Nach zwei bis drei Monaten werden sie – sofern sie gesund sind – wieder in die Freiheit entlassen. Das Ausreifen ihrer natürlichen Instinkte ist ein wichtiges Anliegen der Mitarbeiter, selbst das Jagen wird ihnen hier beigebracht. Dohndorf und seine Kollegen ziehen dazu tote Fische durch das Becken.

Distanz zum Menschen

Die Fütterungszeit und die tierärztlichen Untersuchungen sind der einzige Kontakt zu Menschen. Auch die vielen Besucher der Station bekommen die Heuler nur aus großer Distanz zu sehen. Das Auswildern soll dadurch erleichtert werden.

Seit Jahren schon steigt die Zahl der Seehunde in der Nordsee kräftig. Neben der Arbeit der Seehundjäger ist vor allem die gestiegene Wasserqualität dafür verantwortlich. Das Verklappen von chemischen Abfällen wie Dünnsäure, bis in die 80er Jahre hinein üblich, ist seit den 1990er Jahren verboten. Den Seehunden geht es entsprechend prächtig, aber das freut nicht jeden. Ein Seehund frisst um die 3,5 Kilogramm Fisch pro Tag, bei rund 12.000 Tieren kommt da eine gewaltige Menge zusammen. Schon jetzt rufen manche Fischer danach, das Jagdverbot außer Kraft zu setzen.

Bislang sind dies erst wenige Stimmen, die Mehrheit der Einwohner hat sich mit dem Seehund arrangiert. „Er ist eines unserer Symboltiere geworden. Da gibt es kein Zuviel“, sagt Monika Hecker, Pressesprecherin des Nationalparks Wattenmeer. Nicht zuletzt profitiert der Tourismus von den Tieren.

Auch Karl-Heinz Kolle hält nichts von der Bejagung. „Die Fischbestände sind ja stabil, warum soll man den Tieren da nachstellen?“ Er möchte sie schwimmen sehen im Meer, er möchte, dass sie auf den Sandbänken in der Sonne liegen und dem Lauf der Gezeiten folgen. „Wenn man so einen Kleinen mal auf dem Arm gehabt hat, das vergisst man einfach nicht.“

Kolle steigt in seinen Pick-up. Seine Kontrollfahrt ist für heute beendet, der Alltag im Restaurant geht los. Geschirr wird klirren, Öl spritzen, es muss schnell gehen, die Kunden haben Hunger. Aber seine Gedanken werden wohl auch zwischen Herd und Spülmaschine Richtung Küste schweifen, wo die Möwen schreien und der Wind säuselt.