Jukebox

Ohne Goethe geht gar nichts im Rock ’n’ Roll

Die formierte Gesellschaft: In der Architektur gibt es ein apartes Schreckbild. Man muss es sich als Experiment wie aus einem japanischen Horrorfilm vorstellen, wenn so ein Monster beim Streifzug durch eine Hochhaussiedlung einen riesenhaften Schaschlikstab durch ein Haus rammt. Zieht das Monster ihn wieder hoch, baumeln die Menschlein dran, die alle gerade in der Küche standen und sich ihren Topf Spaghetti zubereiteten. Von Etage zehn bis eins.

In Berlin. In Bonn. In Bielefeld. Überall wird Musik gemacht. Wer jetzt auch noch wissen will, wie es in Tübingen klingt, braucht natürlich den gerade erschienenen Sampler „Tübingen Underground Vol. 1“. Da scheppert der Rock ’n’ Roll, wird Richtung Hardcore geprügelt und macht den Punk. Headbanger-Stoff aus den Kellerlöchern. Die klassische Abspielstätte für Testosteron-gepowerte Musik. In Tübingen. In Bielefeld. Bonn. Berlin. In Gütersloh gekaufte Tomaten unterscheiden sich nicht wirklich von denen aus Göttingen.

Städte-Sampler, historisch: Empörung. Ermächtigung. Gegen die Musikkonzerne. Selber machen. Wichtigstes Medium also in den frühen Punk- und New-Wave-Tagen. Städte-Sampler dokumentieren ex negativo die damaligen Geschäftsbedingungen zu Vinyltagen. Plattenmachen war teuer, trotzdem wollten alle Bands eine haben. Was zur Solidarität zwingt. Viele Schultern tragen Schweres und die Kosten leichter. Auch wenn Stadt nun wirklich keine musikalische Kategorie ist, lag sie als Kollektivierungsprinzip ganz wörtlich einfach nah.

In heutiger volldigitalisierter Zeit hat so ein Sampler was Anachronistisches. Und bleibt eine Behauptung schon in sich: dass es nämlich überhaupt eine Szene gibt. Sonst würde es den Sampler ja nicht geben, wobei man – hört man „Tübingen Underground“ nochmal genauer an – mit einigem Recht behaupten könnte, dass das Unistädtchen gerade das pochende Herz für aktuelle Krautrock-Industrial-Wucherungen ist (gleich drei Projekte: Essighaus, Müllfelsen, Gebärstreik), und andererseits ist die Stadt nicht groß genug, als dass sich nicht immer wieder alle an einem Tresen treffen müssten.

Das mit dem Goethe-Schild auf dem Cover ist schnell geklärt. Es hängt gleich nebenan zu dem Haus, in dem der Geheimrat bei seinem Tübingen-Besuch weilte. Was wunderbare Möglichkeiten eröffnet. Ich stelle mir vor: die Kartierung des deutschen Underground, Stadt für Stadt, im Namen Goethes. Schließlich war der doch fast überall und rülpste, kackte, fickte. THOMAS MAUCH