Tour d’Allemagne

RADSPORT Deutsche gewinnen bei der Frankreich-Rundfahrt Etappe um Etappe. Im Sprint und Zeitfahren setzen sie Maßstäbe

■ Totenwache: Pat McQuaid, Präsident des Radsport-Weltverbands UCI, hat in einem Schreiben den Eltern von Marco Pantani versichert, dass dem 2004 verstorbenen Radprofi der Toursieg von 1998 nicht aberkannt werde. Sollte die Antidopingkommission des französischen Senats dem Italiener in ihrem Bericht Epodoping nachweisen, würde die UCI keine Schritte zur Aberkennung von Pantanis Titel unternehmen, so McQuaid. „Die Analysen des französischen Labors im Jahr 2004 entsprechen nicht den technischen Standards für Antidopingtests und können daher nicht als Beweis im Rahmen von Antidopinguntersuchungen angenommen werden. Sie würden nicht die Eröffnung eines Disziplinarverfahrens ermöglichen. Außerdem sind die Prinzipien der Anonymität nicht respektiert worden“, behauptet McQuaid. In einem Brief an den UCI-Chef hatten Paolo und Tonina Pantani vor einigen Tagen betont, dass es skandalös und rechtswidrig sei, Untersuchungen und Sanktionen gegen einen Verstorbenen anzustreben, der sich nicht mehr verteidigen kann.

AUS FOUGÈRES TOM MUSTROPH

An ihrem 100. Geburtstag wird die Tour de France zur Deutschlandtour. Zwar wird im Fernsehen nur in Spartenkanälen umfangreicher von dem Ereignis berichtet. Ungeachtet dieser Präsenz haben sich drei der insgesamt zehn deutschen Tourteilnehmer schon als Etappensieger hervorgetan und dabei mehr als ein Drittel der bislang zu vergebenen Tagessiege geholt. Zweimal Marcel Kittel (Argos) und je einmal André Greipel (Lotto) sowie Tony Martin (Omega), so lautet die Bilanz nach elf Etappen. Hinzu kommt ein zweiter Platz von John Degenkolb.

Die Siegesserie kommt für die Athleten selbst aber nicht überraschend. „Alles andere als ein Sieg wäre eine Enttäuschung“, hatte Martin selbstbewusst erzählt, als er im Schatten der fast 1.000 Jahre alten Benediktinerabtei auf Mont Saint-Michel darauf hoffte, dass seine Bestzeit im Zeitfahren den Spätnachmittag überdauern möge. Nur der aktuelle Übermann der Tour, Chris Froome, kam dann in seine Nähe, nur zwölf Sekunden fehlten.

Martin hat sein Talent in harter Arbeit auf diese Teildisziplin ausgerichtet. Der 28-Jährige legte an Muskelmasse zu, um, allein gegen Wind und Zeit, mehr Kraft auf die Pedale bringen zu können. Dabei schwerer geworden, büßte er einen Teil seiner Kletterfähigkeit ein.

Einen Coup wie noch 2009, als er Zweiter auf dem gefürchteten Mont Ventoux wurde, hält sein sportlicher Leiter, Brian Holm, daher in diesem Jahr für ausgeschlossen. Auch Martin hat erzählt, dass er erst einige Kilo abnehmen muss, um in diesen Regionen punkten zu können. Beim Versuch der Rückgewinnung von Kletterfähigkeit gilt es, so wenig Zeitfahrpower wie möglich zu verlieren. Wundersam würde die Leistung des Polizisten aus Thüringen nur, wenn er Zeitfahrkönig bliebe und gleichzeitig Kletterkönig würde.

Mit Masse kommen auch die bulligen Sprinter zu ihren Erfolgen. Als derzeit explosivster Mann im Flachland hat sich Kittel herauskristallisiert. Wenig nach steht ihm Greipel, dem zudem entgegenkommt, mit dem stärksten Teamkollegen unterwegs zu sein. Als Reaktion darauf hat Mark Cavendishs Patron Patrick Lefevere prompt dessen einstigen Anfahrer Mark Renshaw verpflichtet. „Wenn man große Investments wie das von Mark Cavendish tätigt, will man auch sicherstellen, dass die Erfolge kommen. Und wenn Herr Greipel hier jeden Tag rumtönt, er hätte den stärksten Zug der Welt, dann wollen wir das Gleiche haben“, sagte der Omega-Teamchef.

Lefevres Mittsaisonshopping zeigt, wie sehr das Cavendish-Lager der Aufstieg Greipels wurmt und dass Erfolge im Sprint Frucht einer Mannschaftsleistung sind. Ohne von ihren Teamkameraden in gute Position gebracht zu werden, hätten weder Greipel noch die Argos-Männer Kittel und Degenkolb eine Endkampfchance.

Pikant ist, dass das deutsche Erfolgsquartett auf dem Boden der früheren DDR geboren wurde – und trotz des Aufwachsens von Martin in Hessen und Degenkolb in Bayern – auch ostdeutsche Leistungssportförderung in ihnen steckt. Greipel wurde vom Jan-Ullrich-Entdecker Peter Sager für den Radsport gewonnen. Kittel, Martin und Degenkolb gehören zum Erfurter Olympiastützpunkt. Martin und Greipel verdienten sich die Profisporen zudem in dem von ostdeutschen Stars geprägten Telekom-Rennstall (Ullrich, Klöden, Zabel, Ludwig), in dessen Nachwuchsabteilung auch ostdeutsche Trainingswissenschaftler tätig waren.

Und obwohl der DDR-Sportlerförderung wie dem Team Telekom und wegen der dubiosen Blutbestrahlungsaffäre auch dem Erfurter Olympiastützpunkt ein Dopinggeruch anhaftet, muss man konstatieren, dass sich das Quartett zumindest verbal stark gegen Doping engagiert. Es ist nicht nur wie etwa Chris Froome gut darin, auf Dopingfragen eloquente Antworten zu geben. Kittel, Martin und Degenkolb haben auch eine Initiative für eine schärfere Antidopinggesetzgebung in Deutschland gestartet. Greipel schloss sich an.

Damit sind die Athleten gedanklich weiter als die Sportpolitiker dieses Landes. Man kann die Muskelmänner sogar als Triebkraft dafür sehen, dass in einem möglicherweise veränderten Umfeld eines Tages ein Klettertalent aus Deutschland um Rundfahrtsiege mitfahren und dabei auf den Gebrauch von Pharmaprodukten verzichten kann. Voraussetzung dafür ist, dass die radelnden Antidopingkämpfer auch wirklich welche sind.