Unerwünschte Nebenwirkungen werden übersehen

Um Nebenwirkungen von neuen Medikamenten entdecken zu können, müssten viel mehr Probanden bei den klinischen Studien eingeplant werden

Wer Komplikationensicher erkennen will, muss die Stichprobe vergrößern

Ein neues Arzneimittel darf erst auf den Markt kommen, nachdem es in klinischen Studien an mehreren tausend Menschen erfolgreich getestet wurde. Die Versuche, in der Regel von Pharmaherstellern veranlasst und finanziert, sollen nicht nur die Wirksamkeit eines Präparats belegen und die richtige Dosierung ermitteln; geprüft und dokumentiert werden muss auch, welche unerwünschten Nebenwirkungen auftreten können. Das Erfassen von Komplikationen scheinen viele klinische Prüfer allerdings nicht so genau zu nehmen – diesen Eindruck legt jedenfalls eine Auswertung zahlreicher Studien nahe, vorgenommen vom Klinischen Psychologen und Psychotherapeuten Winfried Rief.

„Ausgangspunkt unserer Überlegungen“, erläutert der Marburger Professor, „war die Tatsache, dass bei 20 bis 25 Prozent aller zugelassenen Medikamente noch nach der Zulassung das Wirkprofil verändert werden muss, weil plötzlich bislang unbekannte Nebenwirkungen auftreten – dann also, wenn alle klinischen Studien bereits abgeschlossen sind!“

Anschließend überprüfte ein Forscherteam um Rief, wie in über vierzig klinischen Studien zu Statinen (Cholesterinsenkern) – Medikamenten zur Vorbeugung von Herzinfarkt oder Hirnschlag – Nebenwirkungen dokumentiert wurden. Aus methodischen Gründen berücksichtigten die Wissenschaftler nur die Daten zu denjenigen Versuchspersonen, die ein Scheinmedikament (Placebo) eingenommen hatten.

Bei der Analyse kam heraus, dass die Zahl der registrierten Nebenwirkungen von Studie zu Studie stark variiert. Professor Rief: „Beispielsweise wurde bei einer Studie in zwölf Prozent der Fälle von Bauchschmerzen berichtet, bei einer Vergleichsstudie nur in einem Prozent, obwohl beide Male Placebos verabreicht wurden.“ Solche Differenzen seien, wissenschaftlich gesehen, „völlig unverständlich“.

Außerdem stellten die Forscher fest, dass Alltagsbeschwerden wie Kopf-, Bauch oder Rückenschmerzen in manchen Studien wesentlich seltener berichtet wurden, als angesichts ihrer „Grundwahrscheinlichkeit“ in der Bevölkerung hätte vermutet werden müssen. Verblüffend auch: Studienärzte und Patienten führten zahlreiche Nebenwirkungen selbst dann auf das Testpräparat zurück, wenn der Betroffene nur ein Placebo bekommen hatte. „Die Gründe für solche verwirrenden Befunde sind vielfältig“, sagt Rief. Häufig würden Studienpläne so ausgerichtet, dass „für den therapeutischen Zweck ein sehr gutes Maßband, für die Nebenwirkungen aber nur ein grobes Raster“ angelegt werde.

Derartige Prioritäten setzen manche Prüfer offenbar bewusst: Zunächst werde abgeschätzt, bei wie vielen Patienten eine positive Wirkung zu erwarten sei. Anschließend dimensioniere der Studienleiter die Zahl der Probanden gerade so, dass die angestrebte Hauptwirkung des zu testenden Medikaments noch sicher nachgewiesen werden könne.

„Die Nebenwirkungen aber treten mit einer viel geringeren Wahrscheinlichkeit als die Hauptwirkung auf“, weiß Rief. Wer Komplikationen sicher erkennen wolle, müsse die Stichprobe vergrößern, also mehr Probanden einbeziehen.

Studienärzte und Patienten seien häufig nicht in der Lage, die Ursache von Beschwerden richtig zu beurteilen: „Oft werden sie dem Medikament zugeordnet, obwohl sie zum Beispiel nur das Ergebnis übermäßigen Kaffeekonsums sind.“ Andererseits werden laut Rief sogar riskante Nebenwirkungen schlicht übersehen: „Bei muskulärer Schwäche etwa, die für den Patienten bei Einnahme von Statinen sehr gefährlich werden kann, sollte man davon ausgehen können, dass dieses Symptom besonders präzise erfasst wird – tatsächlich aber ist dies nicht der Fall.“

Professor Rief fordert, Nebenwirkungen in klinischen Prüfungen künftig systematisch zu messen und zu dokumentieren. Dabei müssten auch Daten von Studienabbrechern in das Endergebnis einbezogen werden, was bislang oft versäumt werde. Außerdem hält es der Marburger Psychologe für notwendig, die „Grundwahrscheinlichkeit“ von Alltagsbeschwerden stärker bei den Auswertungen zu berücksichtigen. KLAUS-PETER GÖRLITZER