Menschenrechtler auf der Anklagebank

In Moskau beginnt heute ein Verfahren gegen das Zentrum für Menschenrechte. Die Organisation soll die Behörden nicht korrekt über ihre Tätigkeit informiert haben. Das verschärfte NGO-Gesetz wirft bereits seine Schatten voraus

MOSKAU taz ■ „Nur professionelle und dicht vernetzte Nichtregierungsorganisationen (NGOs) können in Russland noch überleben“, meint Irina Chrunowa. Die Anwältin sitzt im Moskauer Büro von „Agora“. Bürgerrechtsgruppen aus Kasan, Tschita und Tschuwaschien gründeten die Initiative im Herbst 2005. Sie gewährt Menschenrechtlern Rechtsbeistand und schult bedrängte Aktivisten, wie sie sich gegen Provokationen von Ordnungshütern zur Wehr setzen können, ohne mit dem Gesetz in Konflikt zu geraten. Heute wird Chrunowa die Interessen des „Forschungszentrums für Menschenrechte“ vor dem Moskauer Basmannij-Gericht vertreten. Der Föderale Registrierungsdienst beim Justizministerium beantragte die Liquidierung der Moskauer Einrichtung. Das Zentrum habe es versäumt, den Dienst über seine Arbeit zu informieren, lautet die Klage.

Seit der Gründung sind sechs weitere Provinzorganisationen Agora beigetreten. Allein 700 Hilfesuchende nahmen an der ersten Kampagne teil: „Nimm auf, verlier nicht, überprüfe!“ Mit diesem Motto wandte sich Agora an Russlands Ordnungshüter, die Klagen von Bürgern nicht entgegennehmen, diese verlieren oder den Beschwerden nicht nachgehen. „Jeden Monat melden sich bei uns mehr Leute“, meint Chrunowa. „Willkür von Gesetzeshütern und Übergriffe auf Bürger nehmen deutlich zu.“

Öffentliche Diskreditierung und Einleitung strafrechtlicher Verfahren gegen unbescholtene Aktivisten gehören zum Standardrepertoire, mit dem der Staat unliebsame Kritiker zum Schweigen bringen möchte. NGOs in der Provinz kümmern sich vornehmlich um die Wahrung elementarer Verfassungsrechte. Mit Opposition zum Kreml, wie manche Moskauer NGOs, befassen sie sich nicht.

Folterpraktiken in staatlichem Gewahrsam und die Praxis, U-Häftlinge jahrelang ohne Verfahren in Gefängnissen schmoren zu lassen, zählen zu den häufigsten Anliegen, die Betroffenen unter den Nägeln brennen. Auch die Neigung, Gerichtsbeschlüsse zugunsten von Bürgern nicht umzusetzen. Ein neues Gesetz, das zivilgesellschaftliche Einrichtungen noch schärferen Kontrolle unterwirft, will dem Bürgerprotest einen Riegel vorschieben.

Die Vorsitzende des beklagten Menschenrechtszentrums, Ljubow Winogradowa, weist die Vorwürfe zurück. Spätestens seit ihrem Amtsantritt 2004 habe das Zentrum über seine Arbeit informiert, sagte sie der taz. Auch Chrunowa wundert sich. Die Kopien der Schriftsätze und eine Empfangsbestätigung des Ministeriums liegen vor ihr. „Der für NGOs zuständige Abteilungsleiter behauptet, nichts erhalten zu haben, der Behördenchef führt aber regen Schriftverkehr mit dem Zentrum über Änderungen im Mitgliederverzeichnis.“

Ein Verbot des Zentrums würde die Zivilgesellschaft ins Mark treffen. So bekannte NGOs wie das „Komitee der Soldatenmütter“, die Unabhängige Psychiatrische Vereinigung, Moskaus Helsinkigruppe und der Verband der Behinderten versammeln sich unter dessen Dach. Persönlichkeiten wie Jelena Bonner, Witwe des sowjetischen Friedensnobelpreisträgers Andrej Sacharow, und Ex-Gulag-Häftling Sergej Kowaljow sind im Vorstand. Auch der Fonds „Bürgergesellschaft“, der sich der Förderung des Rechtsstaates widmet und 500 NGOs mit Know-how und Finanzen unterstützt, geht auf das Zentrum zurück.

Hält sich das Gericht an die Fakten, müsste die Klage abgewiesen werden, meint Chrunowa. Noch ist die Anwältin zuversichtlich, dass kompetente Rechtsvertretung Rechtsverdrehung verhindern könne.

„Das NGO-Gesetz tritt erst im April in Kraft, sein Geist schwebt aber schon über allen Entscheidungen“, meint Winogradowa. Anfang Februar wurde der Vorsitzende der russisch-tschetschenischen Freundschaftsgesellschaft und Betreiber des einzigen unabhängigen und von der EU mitfinanzierten Nachrichtendiensts über den Tschetschenienkrieg in Nischni Nowgorod zu zwei Jahren auf Bewährung verurteilt. Stanislaw Dmitrijewski hatte einen Appell tschetschenischer Separatisten veröffentlicht. Wer Frieden wolle, hieß es darin, dürfe Präsident Putin nicht wieder wählen. Für die Richter ein klarer Fall von „Aufstachelung zum Rassenhass“.

Das Urteil fiel milde aus, denn auf das Strafmaß kommt es nicht an. Als Vorbestrafter darf Dmitrijewski nach dem neuen Gesetz weder in einer NGO arbeiten noch eine Zeitung herausgeben. Ruhe ist die erste Bürgerpflicht, lautet die Kreml-Order. Der will sich Agora nicht unterwerfen.

KLAUS-HELGE DONATH