Mythen der US-amerikanischen Seele

Gregory Crewdson ist ein Meister der theatralen Foto-Inszenierung. Das Museum in Krefeld zeigt jetzt seine erste Retrospektive in Europa

AUS KREFELDKATJA BEHRENS

Die Fotografien Gregory Crewdsons (geb. 1962 in New York) sind deutlich vom Film inspiriert, jenem Medium, das wie kein anderes unsere Wahrnehmung von Wirklichkeit prägt, das die Realität (oder wenigstens die mögliche Realität) unauflöslich mit der Fiktion verwoben hat. Doch die Geschichten, die Crewdson mit großem inszenatorischen Aufwand in seinen Bildern aufblättert, müssen letztlich unverständlich bleiben, denn es gibt keine wirkliche Erzählung – außer jenem erschreckenden Plot, den wir selber phantasieren. Die Szenerien, so scheint es, bündeln mehrere mögliche Erzählstränge, erreichen vermeintlich einen Kulminationspunkt, eine Auflösung oder wenigstens die Hoffnung auf ein Happy End gibt es indessen nicht. Traumsequenzen und eine schmucke Auswahl seelischer Abgründe US-amerikanischer Normalität werden in kalkulierten Bildern eingefroren, die Mythen amerikanischer Selbstbefriedigung in Blockbuster-Fotos verdichtet.

Die große Retrospektive im Krefelder Haus Esters, übernommen vom Kunstverein Hannover, gewährt einen fast lückenlosen Überblick über das Werk Crewdsons. Nicht nur alle sechs seit 1986 entstandenen Serien des Fotografen und Yale-Professors sind nahezu vollständig vertreten, auch die Produktionsbedingungen werden in einem ausführlichen Video und unzähligen “production stills“, die inzwischen auch als Editionen verkauft werden, dokumentiert. Hier sehen wir den Künstler mit großer Crew, mit Kamerakränen, Beleuchtern, professionellen Schauspielern agieren. Wir sehen, wie minutiös und exakt alles berechnet, aufgebaut, inszeniert wird. Schon die ersten paar Bilder im Obergeschoss von Haus Lange lassen ahnen, um was es geht. Die Abschlussarbeit seines Fotografie-Studiums in Yale, die Serie „Early Work“ (1986-88) etwa, setzt der amerikanischen Kleinstadtidylle und ihrer abgründigen Normalität ein lakonisches Denkmal.

Das häusliche Lebensumfeld erscheint subtil bedroht. Später, in den Serien „Natural Wonder“(1992-1997), „Twilight“ (1998-2002) oder „Dream House“ (2002) werden die Inszenierungen aufwendiger und die Ikonographie wird verschlüsselter. Was allerdings nicht bedeuten muss, dass die Arbeiten auch komplexer sind. Am laufenden Band werden von Crewdsons oft schmerzhaft bunten Bildern Assoziationen geweckt und Erinnerungen abgerufen, wird das Film- und Bildgedächtnis bemüht. Das Unfassbare findet in den Populärmythen des Hollywood-Kinos einen wiedererkennbaren Ausdruck.

Doch das Überraschende ist keine wirkliche Überraschung, denn in der Lichtregie kündigt sich die subtile Choreographie des Schreckens längst an: Der Zuschauer ist auf der Hut und auf alles gefasst, fühlt sich an Alfred Hitchcock erinnert, an Steven Spielberg oder an David Lynch, an Edward Hopper, Wim Wenders, an Cindy Sherman und Jeff Wall. Die kleinbürgerliche Welt einer beliebigen US-amerikanischen Kleinstadt, mit Sitzgarnitur und Festtagsbraten, mit Fernsehabend, Basketballkorb und Rosenbeet, und mit den geläufigen Attributen behaglicher Langeweile, die der Fotograf in sorgfältigen Arrangements erschafft und ablichtet, entpuppt sich als böser Traum. Leichen schwimmen im Wohnzimmer umher, der Braten in Blut, Feuerwehr und Polizei umkreisen ein brennendes Haus oder ein Auto auf der Straße, ein Mädchen im Schlafanzug wartet auf den Bus. Die Natur erobert sich den Raum des Menschen zurück, der angesichts all des Unheimlichen und der sich auflösenden Ordnung aber seltsam schlafwandlerisch und passiv bleibt.

Wie auf einer Bühne oder in einem lebenden Bild präsentieren sich die Personen in der jüngsten Serie „Beneath the Roses“ (2003-2005). Deren Bühnenarchitektur wird vielleicht nirgends so deutlich wie in dem Bild des jungen Mannes, der durch den Abfluss der Dusche hindurch im Untergrund wühlt. Nicht nur psychoanalytische Motive, die das kollektive Unterbewusste als deutlich schmutzige „Unterwelt“ von der blitzblanken Normalität unterscheiden, lassen sich hier festmachen. Auch die eigene Biographie des Künstlers scheint hier gespiegelt: Der kleine Gregory, so berichtet er selbst, habe durch den Fußboden dem Vater, einem Psychoanalytiker, bei der Arbeit zugehört. Ohne wirklich etwas zu verstehen habe ihn das geheimnisvolle Gemurmel fasziniert. Für die biographische Auslegung und Analyse seiner Obsessionen ist diese Anekdote ein gefundenes Fressen und wäre bestimmt Material für einen trickreich ausgeleuchteten Film.

Museum Haus Esters, KrefeldBis 14. Mai 2006