„Das war jetzt wenigstens geatmet“

Die verdammten Pizzicati: Dirigieren ist eine hohe Kunst. Gestern wurde sie im Sendesaal von Radio Bremen öffentlich geübt

Der erste Satz Brahms, der erste Proband: Locker zieht er den Stab aus der Ringbindung der Partitur, schulbuchmäßig macht er einen leichten Gretschschritt, und ... – was muss das für ein Gefühl sein, wenn einem auf ein erstes Zeichen hin der satte Klangstrom aus 84 Instrumenten entgegen wälzt.

Was er in diesem freilich noch recht undifferenziert tut. Prompt verzieht die erste Geige beim Crescendo das Gesicht, viele motivische Figuren verhallen vom Dirigenten offenbar ungehört. Doch nach neun Minuten gibt’s zum ersten Mal das Gefühl: Jetzt hat er sie. Ein Gefühl von Gemeinsamkeit, das auch für das Publikum beim „Dirigentenforum“, einer Mischung aus öffentlicher Schulung und Wettbewerb, beglückend ist. Zwischen den großen Hälsen der Kontrabässe lugen Kameras hervor, aber auch den Augen von Wolf-Dieter Hauschild entgeht nichts.

Er ist der musikalische Supervisor, dem es gelegentlich selbst sichtbar in den Handgelenken zuckt. Dann läuft er zum Pult: „Der letzte Takt, da wusste keiner, wie er die Pizzicati spielen sollte!“ Öffentlicher Dirigier-Unterricht hat etwas Paradoxes: Der Zögling switscht ständig zwischen Orchesterherrscher und Zauberlehrling – und Hauschild ist ein strenger Meister: „Die letzten sechs Takte nochmal!“ Jetzt die letzten zwei – „war das Pizzicato jetzt an der richtigen Stelle?“ Und by the way: „Brahms muss man mit Würde kommen lassen! Sie müssen daran arbeiten, dass der Sechsachtel-Takt ausschwingt – nicht wie ein Scheibenwischer.“ Das Lob: „Das war jetzt zumindest geatmet.“

Ermutigend lassen die Streicher ihre Bögen klappern, die Bremer Philharmoniker sind ohnehin sehr nett zu den Adepten – vom freundlich amüsierten Bassisten bis hin zur empathischen Cellistin. Der nächste Kandidat wirkt eher schlaksig. Aber wer mal Roger Norringtons Monty Python-reife Pultperformance gesehen hat, weiß, dass es ein „Don’t“ für Dirigenten nicht geben kann. Norrington ist schließlich Träger des Bremer Musikfest-Preises.

Ganz so weit sind die Sendesaal-Akteure noch nicht, aber immerhin ist die Veranstaltung Teil des erstmals zu vergebenen „Deutschen Dirigentenpreises“. Teilnehmen darf, wer bereits Stipendiat des Deutschen Musikrates ist, der derzeit 28 DirigentInnen fördert. Fünf davon sind Frauen, „schon deutlich mehr als in den letzten Jahren“, sagt der Organisator.

Zurück in den Sendesaal: Die Dirigenten werden immer überzeugender. Simon Gaudenz, erster Linkshänder im Feld, lässt die Supervisions-Situation gänzlich vergessen. Punktuell entpuppt er sich zwar als gestischer Dramatiker, aber es ist ja auch eine aufgeladene Musik, die die jungen Dirigenten gelegentlich zur pathtischen Attitüde verleitet.

Allerdings: Was heißt schon jung? Bremens Generalmusikdirektor war bei seinem hoffnungsvollen Amtsantritt gerade mal 31 – dann allerdings habe er sich, heißt es, zu früh dem Dirigenten-Jetset hingegeben statt mit den heimischen Philharmonikern zu üben. Jetzt jedenfalls gibt Probedirigate, um einen bodenständigeren Nachfolger zu finden – die leider nicht öffentlich sind – obwohl das Publikum spürbar auf den Geschmack gekommen war. Henning Bleyl