Der Biathlon-Komplex in unseren Köpfen

Rätsel, Parabel, Sinnbild oder Allegorie? Welch seltsame Bedeutung hat der ständig präsente Sport der Skijäger?

Wann immer man bei diesen Olympischen Winterspielen vorm Fernseher wieder aufwachte, war Biathlon zu sehen. Genauer gesagt: gefühltes Biathlon. Jeden Moment hatte man das Gefühl, gleich werde zum Biathlon hinübergeschaltet. Es muss ein unermessliches Reservoir an Biathlon-Läufen, Biathlon-Staffeln, Biathlon-Verfolgungsrennen und Biathlon-Massenstarts geben, selbstverständlich Männer und Frauen getrennt und womöglich sogar –warum eigentlich nicht? – im Mix, und das vor einem begeisterten Publikum, vor völlig aus dem Häuschen befindlichen Biathlon-Begeisterten.

Warum?

Die Biathlon-Athleten und Biathlon-Athletinnen schnüren über die Loipe, dann halten sie wie von der Polizei gestoppt inne und schießen wie mit Valium gedopt auf praktisch unsichtbare Ziele, die im Fernsehen immer extra eingeblendet werden müssen, so klein und weit weg sind sie. Wenn sie nicht treffen, gibt es Strafrunden und Strafminuten, und weiter geht es, alles noch einmal von vorn und dreimal hintereinander. Diese Sportart ist inzwischen so populär, dass Vokabeln wie „Diopter“, „Nochmalanlegen“ und „Liegendschießen“ in den allgemeinen Sprachschatz eingegangen sind.

Man wundert sich allmählich, warum nicht die anderen Sportarten – gewissermaßen die Altsportarten – vom unglaublichen Erfolg des Biathlons lernen und dazu übergehen, ihrerseits Schießübungen in die Disziplinen einzubauen. Skispringer, die am Schanzentisch kurz halten, ein paar Schüsse ins Tal abgeben und dann weiterspringen, wären zweifellos eine Belebung dieses an sich reichlich abwechslungsarmen Sports. Das gleiche ließe sich auch sehr gut beim Bobfahren einrichten, wenn der hintere Mann mit der Waffe vielleicht ein paar Schüsse auf die nachfolgende Konkurrenz abgeben muss. Da käme Leben in die Eisrinne!

Wer will, kann noch in den aberwitzigsten Sportarten eine Art Auskopplung entdecken aus unserem Leben und unserer arbeitsteiligen, absurd fragmentierten Welt, deren sinnlose Einzelabläufe in den Disziplinen des Sport sozusagen nachmodelliert sind. Viel ist geschrieben worden über Sport als Metapher für eine vom Leistungsprinzip schon völlig zersetzte Gesellschaft mit einer Hierarchie nach dem Prinzip der gnadenlosen Selbstaufopferung. Oder über Sport als Affirmation der Tat, als Abschied vom reinen Zweckdenken, als Aufstand des Köpers gegen den renitenten Geist. Biathlon aber setzt dem Fass die Krone auf. Biathlon ist Rätsel, ist Parabel, ist Sinnbild. Biathlon ist Allegorie.

Hasten wir nicht alle durchs Leben und schießen uns den Weg frei, ohne das Ziel zu kennen? Genügt nicht ein falscher Schuss, um alle Hoffnungen zu begraben? Ein kleiner Fehler, um grausam bestraft und für immer zurückgeworfen zu werden? Reicht nicht, einmal, ein einziges Mal nur, eine Sekunde falsch zu atmen, und alle, alle Träume zerplatzen?

Denken wir daran, wenn wir bei der nächsten Biathlon-Übertragung, die kommen wird, vorm Fernseher sitzen und uns die schwarz-weißen Augen der Zielscheiben zuzwinkern – oder nicht. RAYK WIELAND