SPRINGEN/NICHT SPRINGEN
: Unendliche Weiten

Stocksteif steht sie da, die Szene ist eingefroren

Sie bewegt sich nicht. Oder doch, jetzt doch. Zentimeterweise. Es sind höchstens Zehenlängen, die sie sich vorarbeitet da oben. Der Rand ist mindestens noch einen Meter entfernt. Hinten wartet schon einer. Sie nimmt keine Notiz davon.

Samstagvormittag im Märkischen Viertel, ich hänge am Beckenrand im Wasser und versuche, nicht voyeuristisch zu wirken. Aber ich kann den Blick nicht abwenden von dem Mädchen da oben, drei Meter über dem Sprungbecken nebenan. Sechs oder sieben mag sie sein. Es wirkt nicht so, als sei sie freiwillig auf den Turm geklettert. Wahrscheinlich hat ihr Vater sie hochgeschickt, er steht unten und feuert sie an.

Jetzt hat sie es immerhin bis zur Kante geschafft. Stocksteif steht sie da, die Szene ist eingefroren. In diesem Moment weiß ich genau, wie sich das anfühlt. Wenn das Wasser zur Ruhe kommt und sich das tiefe Blau zu den Metern darüber addiert. Als ich das erste Mal da oben stand, Jahrzehnte ist es her, fühlte ich mich sehr allein, dabei stand Frau B., meine Schwimmlehrerin, hinter mir auf der Plattform. Vor ihr hatte ich fast so viel Angst wie vor den unendlichen Weiten zu meinen Füßen.

Ich wette gegen mich selbst, dass sie springt. Einer kommt vorbei, Bademütze und Rauschebart, der weiß auch, wie es aussieht von da oben. Er greift ins Becken und sprenkelt Wasser über die Oberfläche, die sich längst bedrohlich geglättet hat. Das Mädchen zögert. Schaut zu ihrem Vater. Macht eine unklare Handbewegung. Springt nicht.

Inzwischen stehen schon einige Unbeteiligte herum und glotzen, genau wie ich. Du schaffst das, rufe ich, in Gedanken. Das Mädchen setzt sich in Bewegung, rückwärts. Erst in Zeitlupe, dann immer entschlossener. Sie wird nicht springen, jedenfalls nicht jetzt. Mich hat Frau B. einfach runtergeschubst. Vor tiefem Wasser habe ich heute noch Angst. CLAUDIUS PRÖSSER