Die Riesen werfen sich warm

In vier Wochen beginnt die neue Saison für die Footballer von Berlin Thunder. Doch der Kader steht noch lange nicht. Im Trainingslager in Florida sondiert Coach Rick Lantz, welche Talente viel versprechend sind. Eine harte Übung für die Riesen

AUS TAMPA, FLORIDA, THOMAS WINKLER

Zwischen den Kolossen wirkt der kleine Mann noch kleiner. Wie ein Zwerg unter Riesen. Der kleine Mann hat eine große Aufgabe: Die Riesen, einen Haufen Talente, muss er in nicht einmal vier Wochen in eine Football-Mannschaft verwandeln, die das Berliner Olympiastadion füllen soll. Einige der Talente sind fast schon gescheitert, andere gelten noch immer als hoffnungsvoll. Die Riesen nennen den kleinen Mann mit dem weißen Bart „Coach“. Oder, noch respektvoller, „Sir“.

Heute ist der Coach sauer. „Horseshit“, Pferdescheiße, sei es gewesen, was die Verteidigung gerade geboten habe, voller dummer, laienhafter Fehler. Und weil der Coach einmal Offizier bei den Marines war und weil ohne Disziplin ein Football-Team nicht funktioniert, lässt der kleine Mann zwei Dutzend erwachsene Männer antreten, auf der Stelle sprinten und sich auf den Boden werfen, bis die schwer schwitzend und schnaufend verstanden haben, dass der kleine Mann auch ein harter Hund sein kann.

„Es waren kindische Fehler“, sagt Rick Lantz, „und kindische Fehler erfordern eine kindische Bestrafung.“ Lantz ist der klein gewachsene Cheftrainer der Football-Mannschaft Berlin Thunder. Alle Jahre wieder kommen er, seine Assistenten und ihre Kollegen von den anderen Klubs der NFL Europe League zum Trainingslager in Tampa zusammen, um unter der Sonne Floridas aus ungefähr 400 Spielern sechs Mannschaften zu formen, die bis Ende Mai den neuen World-Bowl-Champion ausspielen werden.

Über den Wert dieses Titel lässt sich streiten. Thunder hat ihn bereits dreimal gewonnen, ohne dass man behaupten könnte, die Hauptstadt hätte anschließend Kopf gestanden. Der Geldgeber allerdings, die National Football League (NFL), finanziert die NFL Europe sowieso aus anderen Gründen. Dass die NFL-Team-Besitzer im vergangenen Oktober mit überwältigender Mehrheit beschlossen, den Spielbetrieb ihrer kleinen Tochter für die nächsten fünf Jahre zu garantieren, bietet der Liga zwar eine Planungssicherheit, die sie bislang nicht kannte. Der Beschluss soll aber vor allem dazu dienen, neue Märkte zu erschließen, das Produkt American Football außerhalb Nordamerikas bekannter zu machen und Nachwuchstalenten die Möglichkeit zu zu bieten, Spielpraxis zu sammeln.

Doch bis es soweit ist, will erst einmal dieses Trainingslager überstanden sein. Der Tag für die Spieler beginnt um 5.30 Uhr, endet oft erst nach 22 Uhr und ist angefüllt mit Trainingseinheiten, Krafttraining und nicht zuletzt mehreren Meetings. In denen wird in der Theorie erlernt, was auf dem Spielfeld umgesetzt werden soll. Denn jeder einzelne Spielzug, jeder Laufweg, jeder Block, jeder Schritt wird von den Trainern vorgegeben und muss automatisiert werden.

Es ist eine Wissenschaft mit eigener Terminologie und, hat Sebastian Schneider festgestellt, „man sieht nicht, wie viel Arbeit dahintersteckt“. Vor allem, wenn man – wie Schneider – bislang eigentlich noch nie Football gespielt hat. Freunde hatten den ehemaligen Basketball-Jugendnationalspieler im vergangenen Sommer mit zum Training des Ur-Berliner Football-Vereins Berlin Adler geschleppt. Aber aufgrund von Verletzungen und Unerfahrenheit kam er kaum zum Einsatz. Mehr als trainiert hat er noch nicht. Auf sein erstes Spiel unter regulären Umständen, mit vollem Körperkontakt, wartet der Berliner immer noch.

Die Verantwortlichen aber sind der Meinung, dass der 25-Jährige mit dem Gardemaß von 2,02 Meter das Zeug zu einem guten Tight End hat. Was ihm noch fehlt, sind Gewicht, Technik und taktisches Verständnis, also eigentlich alles. Nach jedem Übungsspielzug wird er zur Seite genommen und mit guten Ratschlägen versorgt. Die Trainer überwachen mit Argusaugen sogar Schneiders Mahlzeiten. Denn er muss unbedingt Muskelmasse aufbauen, um von gegnerischen Verteidigern nicht einfach zur Seite geschoben zu werden. 20 Kilo soll er zunehmen – dass das klappt, kann er sich selbst nicht vorstellen. „Aber der Coach wird schon wissen, was er tut.“

Bloß nicht abnehmen

Auch die Spieler aus der Offensive Line müssen auf ihr Gewicht achten. Das darf nicht sinken. Mehr als 130 Kilo sind Pflicht: Ihr Job ist es, den eigenen Quarterback zu schützen und Räume für den Running Back freizublocken. Im Meeting werden mit dem Offensive Coordinator, dem für den Angriff zuständigen Trainer, die Videos der Trainingseinheiten analysiert. „C-gap“, „sixty-two Hollywood“, „double switch“ – die Fachbegriffe fliegen durch den kleinen Konferenzraum. Zehn schwere Männer in Shorts, T-Shirts und Flipflops starren konzentriert auf die Wand, folgen dem zittrigen roten Pointer-Punkt, mit dem der Trainer ihre Fehler aufzeigt.

Immer wieder, zehn, fünfzehn, zwanzig Mal, werden dieselben anderthalb bis zwei Sekunden zurückgespielt. Ein falscher Schritt, ein verpasster Block können im Ernstfall dafür sorgen, dass der Quarterback die eine Zehntelsekunde zu wenig Zeit bekommt, um den Pass zum Touchdown zu werfen, können im Ernstfall entscheiden zwischen Sieg und Niederlage.

Nach dem samstäglichen Trainingsspielchen gegen die Kollegen von den Hamburg Sea Devils entspannen sich einige der schweren Männer am Hotelpool, pflegen die kleinen Blessuren, die nicht ausbleiben. Die Stimmung ist locker. „Achtung, ein Wal!“, heißt es, wenn sich einer der Linemen zu Wasser lässt. Währenddessen tauschen die Coaches sich aus. Der Kader von Thunder muss reduziert werden. Noch sind sie sechzig. Heute werden vier oder fünf in aller Frühe die Heimreise antreten müssen. Auch das gehört zu den Aufgaben des kleinen Mannes mit dem weißen Bart.