Schienen aus der Vorkriegszeit

VERKEHR Nach dem Zugunglück vom Freitag wird in Frankreich über den Zustand der Bahn gestritten. Einem maroden Netz in der Fläche steht der moderne, teure TGV gegenüber

Die ehrgeizigen Projekte für Superschnellzüge ins Ausland müssen warten

AUS PARIS RUDOLF BALMER

Das schwere Zugunglück im Süden von Paris hat in Frankreich einen Streit über die Bahnpolitik entfacht. Sechs Menschen starben, als am Freitag der Intercity-Schnellzug Paris–Limoges entgleiste, dreißig wurden verletzt. Eine der Metalllaschen, die jeweils mit vier großen Schrauben zwei Schienenstücke zusammenhalten, hatte sich in einer Weiche verklemmt, 200 Meter vor dem Bahnhof des Vororts Brétigny-sur-Orge. Als der Zug nach Limoges mit 137 Stundenkilometern darüber fuhr, sprangen die mittleren Wagen aus den Geleisen.

Wie sich das rund zehn Kilogramm schwere Teil lösen konnte, ist bislang noch unklar. Sabotage oder Vandalismus wurden von offizieller Seite bislang als Ursachen ausgeschlossen, vielmehr wird nun über den Zustand der französischen Züge und der Schieneninfrastruktur diskutiert.

Die Strecke im Süden der Hauptstadt ist mit mehr als einer halben Million Passagieren täglich eine der am meisten befahrenen Bahnabschnitte Frankreichs. Doch die Investitionen in den Unterhalt und die Erneuerung der Gleise haben mit dieser Bedeutung bei weitem nicht Schritt gehalten. „Ein ganzer Teil dieses Schienennetzes stammt noch aus der Vorkriegszeit“, wettert der grüne Vizepräsident der Hauptstadtregion, Pierre Serne, und kritisierte, der Nahverkehr werde vernachlässigt.

Immer wieder beschweren sich Gewerkschaften oder Pendler, dass die Züge zwischen den Vorstädten und Paris in jämmerlichem Zustand seien; sie seien häufig unpünktlich, hätten ständig Pannen und böten einen mangelnden Komfort. Tatsächlich datieren einige noch von Hand zu bedienende Weichen auf der Strecke aus den 30er Jahren. Wenn der Schienenverkehr trotz all dieser Missstände relativ sicher sei, so Serne, dann nur wegen der außerordentlichen Arbeit des Bahnpersonals.

Ausgerechnet der Stolz des französischen Bahn, die modernen Hochgeschwindigkeitslinien des TGV, werden dagegen angeprangert. Sie machen nur 1.900 von insgesamt 30.000 Kilometern aus, und sie transportieren nur 20 Prozent aller Passagiere. Doch ein Großteil der Investitionen der vergangenen 30 Jahre sind in diesen Bereich geflossen. Die Förderung der Vorzeigetechnologie ging zum Ärger vieler täglicher Bahnfahrer auf Kosten der „klassischen“ Strecken in der Provinz und in den Vorstädten. Die für den Unterhalt zuständige staatliche Gesellschaft Réseau Ferré de France (RFF) hat sich mit den TGV-Linien so hoch verschuldet, dass sie anderswo sparen musste.

Die rot-grüne Linksregierung unter Staatspräsident François Hollande hat nun eine Wende dieser „Pro-TGV-Politik“ angekündigt. Oberste Priorität soll demnach in den kommenden Jahren die Renovierung der bestehenden Schieneninfrastruktur haben. Die ehrgeizigen Projekte für Superschnellzüge ins Ausland, außer der umstrittenen Linie Lyon–Turin, müssen warten. Für die Opfer der Katastrophe von Brétigny-sur-Orge vom Freitag ist dies gewiss kein Trost.