FOTOGRAFIEREN VERBOTEN
: Schlafende Schönheit

Sie empfängt viele Besucher

Sie hat einen Raum mit Aussicht für sich allein. Würde sie auf die unverstellte Sichtachse fokussieren und die Pupille scharfstellen können, darauf, wer ihr in der Ferne gegenüber steht, dann sähe sie einen Gott. Sie empfängt viele Besucher. Verehrer, Interessierte, Sachkundige. An sechs Tagen in der Woche. Montags ruht sie.

Auch an diesem Wintertag haben sich die Gäste zahlreich eingefunden. Und schauen mit Lust. Wie das Paar, das aneinander gelehnt ausgiebig ihre Schönheit bewundert. Wie der attraktive Mann mit den ausgeprägten Lebenslinien. Über Kopfhörer lauscht er einem erläuternden Text und liest das Fragment dann erneut ein. Wie die beiden betagten Freundinnen. Sie umrunden sie langsam und flüstern einander ihre Wertschätzung zu.

Sie hat zwei Wächter. Der Ordnung wegen. Sie observieren genau, was die Besucher des Schützlings tun und vorhaben. Fotografieren beispielsweise ist nicht erlaubt. Sie würde wahrscheinlich in einem Blitzlichtgewitter ertrinken. Es heißt, weil das Licht des Raums bewusst gesetzt sei, komme insbesondere ihre Reife zur Geltung. Die feine Falte unter den Augen. Die Nuance leicht gesenkter Mundwinkel. Und so ist es.

Dann schneit die Konkurrenz herein. Denn die Konkurrenz schläft niemals, pflegte N. immer zu sagen. Lässig kommt sie angeschlendert, selbstbewusst, auf hohen Hacken. Fröhlich klackern die Absätze auf dem Boden. Ebenso feine Züge im Gesicht wie sie hat auch die andere. Blutjung, ungeschminkt, das kurze Haar wild zurechtgerückt. Eine bildschöne Frau schaut eine bildschöne Frau an.

Über drei Jahrtausende ist sie alt, eine Verbindung zwischen den Zeiten. Als würden Ahnen zu uns sprechen. Auf einem der Poster mit ihrem Abbild, das der Gast im Foyer kaufen kann, steht übrigens: „Schönheit geht vor Alter“. Inspirierend, der Gedanke.

GUNDA SCHWANTJE