Durchdringen bis zum Grund

Bekenntnis zu einem Flickwerk: Sebastian Baumgarten und Thomas Hengelbrock nehmen in der Komischen Oper Händels „Orest“ als Pasticcio, ein Best-of der schönsten Arien. Wie in einer offenen Werkstatt führen sie die Arbeit an der Aufführung vor

VON KATRIN BETTINA MÜLLER

Orest und Iphigenie, zwei Geschwister, die sich nicht erkennen: Ein kurzer Text, der ihre komplizierte Vorgeschichte erzählt, hat den Zuschauer zu Beginn der Oper „Orest“ auf diese Begegnung vorbereitet. Nun stehen sie sich gegenüber, zwei große, junge Frauen, die langen Haare ähnlich wirr, misstrauisch und auf der Hut und unglücklich beide über das, was sie tun. „Erinnerung, du bist eine große Folter“, singt Orest, und diese Trauer über die Vergangenheit und seine Verbrechen verlässt die Figur nie. Iphigenies Handwerk als Priesterin der Artemis ist auch nicht besser: Alle Fremden zu töten und der Göttin zu opfern, hat König Thoas ihr befohlen. Aber ab diesem Augenblick will man, dass die beiden sich zum Spiegel werden, und retten aus dieser trostlosen Gegend.

Natürlich ist Orest eigentlich keine Frau, aber weil Händel die Rolle für eine Kastratenstimme geschrieben hat, wird sie von einer Mezzosopranistin, Charlotte Hellekant, gesungen. Damit hat Sebastian Baumgarten, Regisseur der Inszenierung an der Komischen Oper, schon den ersten Keil, der zwischen Darsteller und Rolle getrieben werden kann, von der Musikgeschichte in die Hand gelegt bekommen. Er macht leichthändigen Gebrauch davon – und man könnte das als Demontage der Oper sehen. Aber eigentlich geht es Baumgarten um ihren Schutz und um die Verteidigung ihres Rechts auf das Irrationale. Nie wird der Gesang, nie die Musik an irgendeine Form von Handlung oder Konzept verraten.

Baumgarten und Thomas Hengelbrock, der musikalische Leiter, nehmen die Oper von Händel als Pasticcio, ein Best-of der schönsten Arien Händels, die der Komponist neu zusammenstellte. Nach der Uraufführung 1734 in London war das Werk übrigens fast 250 Jahre lang vergessen. Kein Wunder, denn die Handlung weicht nicht nur verwirrend vom Mythos ab, sondern wechselt auch mehrmals das Thema. Eine Braut von Orest, Hermione, wird eingeführt, um das damalige Schema von sechs Solistenrollen zu bedienen und Eifersucht ins Spiel zu bringen: König Thoas (James Creswell) verliebt sich in sie. Wie ein krimineller Kiezkönig, kettenbehängt und mit offenem Hemd, tritt er auf: „Du musst bedenken, ich bin ein König, und mein Verlangen hält keiner auf.“ Die unglaubliche Liebesgeschichte zwischen ihm und Hermione (Valentina Farcaș), deren Rock ebenso kurz ist wie ihre Stimme angriffslustig, wird als genau das gespielt, eine unglaubliche Liebesgeschichte, zum Lachen eigentlich.

Nein, nicht die Handlung, nicht der mythische Kern der Figuren und auch nicht ihre Kostümierung als Menschen der Gegenwart gibt diesen Figuren ihr Daseinrecht auf der Bühne, sondern allein ihr Singen. Das stellt die Inszenierung heraus. Sie unternimmt keinen Versuch, die Brüche in einem Flickwerk zu flicken, das sich einer historischen Produktionsökonomie verdankt, oder aus einer Perspektive der Aufklärung die Dinge zurechtzurücken. Der Tyrannenmord am Ende ist so ein Topos, der leicht dazu verführen könnte, politisch korrekt aufgearbeitet und als inhaltlicher Schwerpunkt herausgestellt zu werden.

Die Inszenierung tut das nicht, sondern legt vielmehr das Oberflächliche der Handlung offen. Nach dem Tyrannenmord nimmt jeder der Beteiligten ein Knöchlein zur Hand und tanzt triumphierend um das Grab. Man zeigt, dass man von dieser Lösung der Konflikte nicht viel hält. Aber man zeigt es nicht triumphierend, sondern als kleine, leichtgewichtige Anmerkung.

In den Arien aber dehnen sich die Zeit und die Emotion. Es sind stets nur wenige Textzeilen, die wiederholt und ausgeschmückt, ein flirrendes, anrührendes, endloses Feld der Empfindung öffnen. „Ich muss sterben, mein lieber Freund“ ist fast der ganze Text des gefangenen Pylades (Finnur Bjarnason), ein Freund von Orest, und eine unendlich verlängerte Abschiedsgeste. „Ich kann es nicht begreifen, ich leide und verzweifle“, antwortet Orest. Jedes Mal setzen die Gefühle schon im Äußersten an, Verzweiflung, Opferbereitschaft, Todessehnsucht, Freundschaft, Liebe, alles wird an den Rand getrieben. Das sind die Bruchstücke, deren Glanz es wert ist, über die Lücken dazwischenzuspringen.

Das Orchester steht auf der Bühne, hinter den Sängern, damit sie kein Graben vom Publikum trennt. Dieser Versuch, größere Nähe zu stiften, gelingt nicht ganz, aber es ist schön, die Musiker immer in Bewegung zu sehen. Für das Bühnenbild davor haben Robert und Ronald Lippok, bildende Künstler und Musiker, die schon öfters mit Sebastian Baumgarten zusammengearbeitet haben, einige mobile und wandelbare Elemente geschaffen, die oft von den Sängern selbst umgeräumt und umgebaut werden. Es gibt keine großen Auf- und Abtritte, keine monumentalen Kulissen, sondern ein ständiges kleinteiliges Gewusel, eine alltägliche Bewegungssprache. Teilweise haben die Sänger eine Videokamera in der Hand, und vergößerte Ausschnitte erscheinen auf wechselnden Bildflächen. Dazu passen zwei Musiker im Matrosenanzug, die mit Akkordeon und Balalaika die Rezitative begleiten und im Übrigen essen oder rauchen. Diese ständige und offene Beschäftigung mit der Produktion der Oper, diese Streuung der Aufmerksamkeit, fast eine Werkstattatmosphäre, nimmt überraschenderweise die Anstrengung, das Bemühen um die große Geste, aus dem Gesang. Und gerade das lässt ihn umso berührender die Alltäglichkeit durchstoßen.

„Orest“, Komische Oper, 5., 8., 17. + 19. März, 19 Uhr