Kunst als Waffe

DAS SCHLAGLOCH von KERSTIN DECKER

Karikaturen, Kino, Theater und Vögel – lauter luftige Dinge bevölkern derzeit die HauptnachrichtenKunst ist Metapher. Aber muss man nicht Angst haben vor der Metaphorik vom „Reich des Bösen“

Lauter nicht ganz bodenständige Dinge bevölkern plötzlich unsere Leitartikel und Hauptnachrichten. Theater und Vögel, bildende Kunst (Subgenre: Karikatur) und Kino. Lauter Luftikusse, die den Kopf am liebsten irgendwo zwischen den Wolken haben, weshalb sie die ernst zu nehmenden Menschen normalerweise nicht ganz ernst nehmen. Man merkt es schon daran, wie sie das Wort „Feuilleton“ betonen. Wohlwollender Speiton, Mundwinkel abwärts. Aber jetzt ist das anders.

Sogar das Theater hat es in die Schlagzeilen geschafft! Nur weil dieser Frankfurter Schauspieler Thomas Lawinky dem Frankfurter Kritiker Stadelmaier seinen Notizblock weggenommen und „Hau doch ab, du Arsch, verpiss dich!“ gerufen hat. Alle ernst zu nehmenden Menschen finden Schauspieler, die Kritiker schubsen, verbal und körperlich, völlig daneben. Aber das ist doch nicht gerecht. Schauspieler sind Luftmenschen wie alle Künstler.

Kritiker, glauben die Künstler, sind verhinderte Luftmenschen, sie können nicht fliegen, weshalb sie eben irgendwann beginnen, Kritiken zu schreiben. Kann Stadelmaier fliegen? Aber das ist nicht die entscheidende Frage. Denn eigentlich dürfte es in einer richtigen Demokratie gar keine Kritiker geben. Das Amt des Kritikers ist undemokratisch. Es ist die alte Marx’sche Frage: Wer kritisiert die Kritiker?

Der Vorläufer dieser Frage „Wer erzieht die Erzieher?“ führte einst zum Ende der Aufklärung, woran man den Stellenwert der Problematik ermessen kann. Der Kritiker sagt dem Künstler, was er von ihm hält, aber nie darf der Künstler dem Kritiker sagen, was er von ihm hält. Ahnen wir denn, was für ein Mitteilungsbedürfnis Künstler hier entwickeln können?

Nun ist diese Gesellschaft sehr empfindlich gegen körperliche Züchtigung, weshalb es fast so schlimm ist, einem Kritiker seinen Notizblock wegzunehmen wie seinem Kind einen Klaps zu geben. Etwa, wenn es zu seinen Eltern sagt: „Hau ab, du Arsch, verpiss dich!“ Bekäme das Kind einen Klaps, wüsste es künftig, was der Satz bedeutet. Und dass er Eltern gegenüber etwas anderes bedeutet als auf dem Schulhof. Aber wir heben die Hand nicht. Denn wir sind längst Habermasianer. So ein Klaps verletzt das kommunikative Grundgesetz der Reziprozität und missachtet die rationale Kompetenz des Kleinkinds.

Doch, doch, es gibt Mitmenschen, die würden das genauso ausdrücken. Und wenn man die reden hört und auch wenn man manche Theaterkritiken liest, dann könnte man glatt vergessen, dass das Recht auf körperliche Unversehrtheit ein grandioses, geschichtlich völlig unwahrscheinliches Menschenrecht ist.

Lieber Herr Lawinky, die Waffe des Künstlers ist die Kunst. Natürlich ist auch das ein sehr schwieriger Satz. Denn besonders bedenklich sind an dieser Stelle Umkehrungen. Etwa: Kunst ist Waffe! Der real existierende Sozialismus glaubte das auch. Dabei hatte ihn Ludwig Marcuse schon früh bemerkt, auch ein Regenschirm sei Waffe, je nach Temperament des Benutzers, bloß sei er dann eben kein Regenschirm mehr. Und doch.

Lieber Herr Lawinky, haben Sie eigentlich Leander Haußmanns „NVA“-Film gesehen? Ist Ihnen auch aufgefallen, dass der absolut fieseste Typ dort Stadelmaier heißt? Also der, der immer heimlich die Schokolade im Spind isst. Der Oberanscheißer. Vielleicht muss man dazu wissen, dass Haussmann nicht nur Film-, sondern vor allem Theaterregisseur ist. Ein von Kritikern oft, zu oft missverstandener Theaterregisseur? Egal, Stadelmaier wird am Ende gekocht, und zwar in dem NVA-Riesenturbotopf, in dem er immer heimlich badet. Denn Kunst ist Waffe.

Der alte Satz wirkt plötzlich so ungemein neu. Die Karikaturisten haben sicher bis eben auch nicht geahnt, dass ihr Bleistift einmal waffenscheinpflichtig werden könnte. Und nicht nur die arabische Welt und Stadelmaier fühlen sich angegriffen. Wir auch. Wegen dieses türkischen Kinofilms, den keiner gesehen hat und von dem alle reden. Zwei türkische Agenten erlegen einen oberfiesen Amerikaner (Billy Zane) im Irak. Und die Türken rennen zu Millionen ins Kino, um das zu sehen. „Tal der Wölfe“ ist einer der teuersten Filme, den die Türkei je gemacht hat. Vor dem, was die Türken sehen, haben wir Angst. Am Ende glauben die das. Man kann natürlich zur Not den Iran daran hindern, Atomwaffen zu produzieren, aber kann man der Türkei verbieten, Filme zu drehen? Man kann ihr zuflüstern, mit solchen Filmen kommt ihr erst recht nicht in die EU, aber sind Nachrichten dieser Art nicht ein Grund für den Empfänger, „Tal der Wölfe“ erst recht zu sehen?

Gerechtigkeit ist immer auch Selbstgerechtigkeit, nicht nur bei Kritikern, auch bei Nationen und ganzen Weltsystemen. Schließlich haben die USA gewissermaßen das Genre erfunden, es gibt keine Actionfilme ohne Feindbild. Nur kamen die Feinde sonst immer aus dem Osten, gern Russen, auch Vietnamesen. Und damit man die Feindhaftigkeit des Feindes besser erkennen konnte, sahen sie meist schon ein wenig untermenschlich aus. Genau wie die Widersacher von „007“. Und jetzt erfinden die Türken ihre eigenen James Bonds.

Kunst ist Metapher. Ob die Muslime das auch wissen? Aber als Ronald Reagan damals die Sowjetunion das „Reich des Bösen“ nannte, fühlten wir uns nicht als Metapher. Als DDR-Insassen fühlten wir uns sehr mitgemeint und dachten: Die spinnen, die Amis! Natürlich wirkte die Sowjetunion auch nicht gerade aufgeklärt, aber wer „Reiche des Bösen“ ortet – muss man vor dem nicht ebenso Angst haben? Der staatstragenden quasireligiösen US-Rhetorik ist bis heute nicht oft anzumerken, dass es mal etwas gab in Alteuropa, das man die Aufklärung genannt hat. Der fiese Oberausbeuter-Ami im „Tal der Wölfe“ ist auch noch christlicher Fundamentalist.

Im Wettbewerb der Berlinale lief außer Konkurrenz „V for Vendetta“. In London, nahe Zukunft, herrscht ein christliches Fundamentalistenregime. Aber die Elemente, mit denen es herrscht, sind alle schon da. Fast dasselbe Fernsehen, fast dieselben Nachrichten, fast dieselben …, nur die Londoner U-Bahn ist längst geschlossen. Zu anschlagsanfällig. Dieser Film ist immer einen Lidschlag vor uns, hinter uns und neben uns. Alles scheint fremd und längst urvertraut im selben Moment. Am Anfang fliegt Old Bailey in die Luft – terroristischer Anschlag? –, am Ende, zum Happy End, Big Ben mit den ganzen Houses of Parliaments. Trotzdem ist dies kein türkischer Propagandafilm, sondern ein britischer Film. Die Briten sind noch nie durch fahrlässigen Umgang mit der eigenen Tradition aufgefallen. Die Kritiker fanden „V for Vendetta“ doof. Sie verstanden nicht, was das für ein gerechter Krieg sein soll, bei dem zum Happy End das älteste demokratische Parlament der Welt in die Luft gesprengt wird, und es sieht aus wie ein Freudenfeuerwerk. Aber, liebe Mitkritiker, das war doch eine Metapher!

Und was für eine Metapher. Eine Metapher für die Einsicht, dass jede Gerechtigkeit, selbst die westliche, auch Selbstgerechtigkeit ist. Und dass eine globale Gerechtigkeit in den alten (und schönsten) Symbolen nicht mehr unterkommt.

Ach ja, 007 gibt es auch noch. Die Dreharbeiten hatten schon begonnen, da war er noch immer ohne passenden Erzfeind! Jetzt ist der Urböse des Jahres da. Mads Mikkelsen wird es. Ausgerechnet ein Däne! Hat Dänemark das wirklich verdient?

Fotohinweis: Kerstin Decker lebt als freie Publizistin in Berlin.