Das Codewort überhört

DISZIPLIN Wo Decken, Wegsehen und juristische Retourkutschen die Regel sind: Gegen übergriffige Kollegen sagen Polizisten höchstens dann aus, wenn sie selbst deren Opfer geworden sind

Kündigt ein Opfer polizeilicher Gewalt an, sich mit einer Anzeige zur Wehr zu setzen, wird es häufig zum zweiten Mal Opfer: So gehört es auch bei der Hamburger Polizei zur routinemäßigen Praxis, mit einer Gegenanzeige zu reagieren – der Vorwurf etwa der Körperverletzung im Amt wird dann gekontert mit einer Anzeige wegen Widerstands oder Beleidigung.

Diese Erfahrung machte Sabine Klein*, Teilnehmerin einer Demonstration – ausgerechnet gegen Repression. Immer wieder stoppten uniformierte Spezialeinheiten den Umzug. „Plötzlich“ und „grundlos“ habe sie dann „einen Faustschlag auf die Nase“ erhalten, erinnert sich die damalige Studentin – von einem Mann in Uniform-Overall, mit Sturmmaske und Polizeihelm. Klein erlitt einen Nasenbeinbruch. Ermittelt wurde der Schläger überhaupt nur, weil das ganze von einem Fernsehteam gefilmt worden war.

Und: Indem der Polizist seinerseits der Studentin eine Straftat anzulasten suchte, gelangten seine Personalien in die Akten der Justiz. Die zierliche 1,60 Meter große Frau habe versucht, eine andere Demonstrantin aus den Fängen zweier Uniformierter zu befreien, lautete der Vorwurf. Das Verfahren gegen den Polizisten wurde eingestellt, Klein musste sich vor Gericht verantworten – wegen falscher Verdächtigung. Am Ende wurde sie freigesprochen.

Viel öfter bleiben Polizisten unerkannt. So erging es Jacob Papst* aus Hannover am selben Tag bei derselben Demonstration: Vor dem Millerntorstadion in Hamburg-St. Pauli passierten acht Beamte einer Berliner Beweissicherungs- und Festnahmeeinheit die Demonstration. Einer der Polizisten, erzählt Papst, habe ihm mit dem Tonfa-Kampfstock einen „gezielten Schlag auf den Kopf“ zugefügt. Durch die Wucht bekam er ein Ohr halb abgerissen. Der achtköpfige Trupp verschwand in der Menge der Kollegen.

„Einer dieser typischen Fälle“, sagt Papsts Anwalt Marc Meyer: Den uniformierten Täter konnte die Staatsanwaltschaft angeblich nicht ermitteln. Zweieinhalb Jahre habe er ein Ermittlungsverfahren wegen versuchten Totschlags am Laufen halten müssen, so Meyer, bis die Einheit ausfindig gemacht werden konnte und die Beamten vernommen wurden. „Keiner wollte es gewesen sein und keiner wollte etwas gesehen haben.“

Auch im Revier Lerchenstraße nahe dem Hamburger Schanzenviertel kamen in der Vergangenheit wiederholt Menschen gesund an – und teils mit Knochenbrüchen wieder heraus. Obwohl bis zu fünf Beamte anwesend waren, wollte niemand auch nur etwas mitbekommen haben.

Diesen Korpsgeist lernte auch Werner Hackmann kennen, zwischen 1988 und 1994 SPD-Innensenator in Hamburg: Jahrelang hatte er sich vor die Beamten gestellt – bis ihm das Ausmaß dessen bekannt wurde, was sich einige von ihnen vor allem gegenüber Schwarzafrikanern erlaubten: Körperverletzungen, nächtliches Verbringungsgewahrsam an den Stadtrand und „Schein-Hinrichtungen“ im Hafen.

„Die Übergriffe gegenüber Ausländern haben eine Dimension angenommen, die ich nicht für möglich gehalten habe“, sagte Hackmann damals. Mit seinem Rücktritt 1994 wollte er etwas in Bewegung setzen, wie es ihm „in seiner Amtszeit nicht gelungen“ sei. In der Tat wurden zuvor eingestellte Ermittlungsverfahren gegen Polizisten wegen Körperverletzung im Amt neu aufgerollt, ein Parlamentarischer Untersuchungsausschuss stellte strukturelle Defizite fest. Strafrechtliche Konsequenzen hatte das alles kaum.

Ihr Schweigen über die Verfehlungen von Kollegen brechen Polizisten allenfalls, wenn sie selbst Opfer werden. So zeigten zwei Kieler Beamte, die in Hamburg als Zivilfahnder bei einer Großdemonstration eingesetzt waren, drei Polizisten einer Thüringer Spezialeinheit an: Von denen seien sie verprügelt worden, obwohl sie doch hörbar das Codewort gerufen hätten – „Mondschein“. Eine Ausnahme war auch jener Vorgang auf der legendären Hamburger „Davidwache“: Zwei zufällig auf dem Revier eingesetzte Bereitschaftspolizisten wurden Augenzeugen, wie der Dienstgruppenleiter in der Verwahrzelle einen Festgenommenen verprügelte. Und sie sagten vor Gericht dann sogar gegen den Schläger aus.  KAI VON APPEN

*Namen geändert