Schlauer hecheln

Tomboy mit 100.000 Volt: Das Multitalent Heidi Mortenson hat alle störenden Gender-Ketten abgeworfen und macht mit der Band „The Uncontrollables“ vollbärtigen Electrosoul. Ein Porträt

Musikalische Kollaborateure fand sie in Berlin, das Bafög kommt aus Dänemark

VON LORRAINE HAIST

Wie macht man den lederbejackten, zwei Meter großen Tourmanager einer britischen Rock-’n’-Roll-Band sprachlos? Ganz einfach: Man lässt im Gespräch so nebenbei fallen, dass man Tomboys irgendwie anziehend findet. Pure Furcht spricht dann aus den Augen des weit gereisten Mannes, der eigentlich von der Berliner Musikszene hören will. Und dann erfahren muss, dass es hier vor ProtagonistInnen nur so wimmelt, die die Verwischung von Geschlechtergrenzen mit dem größten Vergnügen zu einem sehr lebendigen Bestandteil ihrer Kunst gemacht haben.

So humorvoll, augenzwinkernd und cheeky fegen die Kevin Blechdoms, Mockys und Planningtorocks über die Bühnen dieser Stadt, dass einen die Vorstellung ganz beschwipst macht, wie leicht sexuelle Befreiung sein könnte, wenn man mal nicht mehr darüber redet, sondern einfach ausprobiert. Und dann freut man sich über diese multiaktiven Vorbilder, die einem die Angst vor der eigenen kreativen Unzulänglichkeit mit einem großen Lächeln aus der Hand nehmen.

Ganz groß unter diesen Tausendsassas ist auch die 30-jährige Exildänin Heidi Mortenson, die nach sieben in Barcelona verbrachten Jahren 2003 in Berlin hängen geblieben ist. Seitdem steht sie regelmäßig – mal solo, mal gemeinsam mit befreundeten Kolleginnen wie Rhythm King And Her Friends oder Monotekktoni – auf Berliner und anderen europäischen Bühnen. Mit einer Musik, die sie selbst als „Tomboytronica Electrosoul“ beschreibt – „um es denen recht zu machen, die Musik immer in Kategorien fassen müssen“. Dennoch ist die Selbstbeschreibung so umfassend wie passend: Auf ihrem kürzlich erschienenen Debütalbum „Wired Stuff“, das sie komplett alleine eingespielt und gemischt hat, klingt Heidi Mortensons Musik wie ein heißer, köstlicher Liebestrank der Neuzeit – voller schlauer Hechel-, Zisch- und Zirrlaute und technikverliebter Geräusche, die ganz klein fiepen, tuckern und kratzen, um dann plötzlich als böse Industrial-Säge durch den nächsten Song zu brettern.

Begleitet wird das von warmen Orgel- und Synthie-Sounds und einer bunten Parade aus leichtfüßigen Elektro- und stampfenden HipHop-Beats, die immer dann abbrechen, wenn man sich gerade zu schön darin eingerichtet hat. Das klingt süß und sauer, anziehend und abstoßend, rau wie ein kratziger Pullover und anschmiegsam wie die Männerunterhosen ihres Vaters, in denen Heidi gern ihre 100.000-Volt-Bühnenshows bestreitet.

Richtig herrlich wird diese Platte aber durch ihre soul-volle Stimme, die sich klar durch die Qualen der Liebe windet, von denen die Texte explizit und körperbetont erzählen: „Just shut up and kiss me“, singt, rappt und stöhnt Heidi und ist dabei fast noch besser als Peaches.

Auf Platte klingt Heidi Mortenson wie ein heißer Liebestrank der Neuzeit

Viel von Heidi Mortensons musikalischer Inspiration wurzelt in der Geräuschkulisse ihrer Kindheit: „Mein Vater ist Automechaniker und hat oft abends oder am Wochenende noch in unserer Garage gearbeitet, während meine Mutter nebenan im Wohnzimmer Orgel gespielt hat. Ich lag auf dem Sofa und bin zu diesem Sound eingeschlafen.“ Aus alter Familientradition lernte sie ebenfalls Orgel und Akkordeon, dazu gesellte sich irgendwann eine Vorliebe für Funk und Soul, gerne aus dem Hause Motown – Nina Simone, Al Green, Otis Redding und Mahalia Jackson. Und dann kam der Tag, an dem Heidi sich endlich selbst zu singen traute; mittlerweile ist ihre Stimme ein „Instrument, auf dem ich jeden Tag, auf dem Fahrrad, an jeder Straßenecke, immer, überall übe“.

Musik steht schon lange im Mittelpunkt von Heidi Mortensons Leben. Nachdem sie in Kopenhagen Modern Dance studiert und ihre Nase in die dortige Clubszene gesteckt hatte, suchte sie eine neue Heimat für ihr frisches Interesse an elektronischer Musik. Sie fand sie in der katalanischen Metropole. In Barcelona überlebte sie als DJ und Clubmanagerin, vor allem aber lebte sie für durchtanzte Nächte: „In Barcelona war ich ein totales ‚club kid‘. Ich war jede Nacht unterwegs, oft alleine, weil ich damals so schüchtern war und niemanden kannte. Manchmal hat mich die Musik so weggefegt, dass ich auf der Tanzfläche ohnmächtig geworden bin. Wenn ich dann den Leuten erzählt habe, dass ich überhaupt keine Drogen nehme, wurden sie sauer: Sie waren sich sicher, dass ich nichts abgeben will.“

Irgendwann wurde Barcelona zu laut und zu teuer. Passende musikalische Kollaborateure fanden sich auch nicht. Die brachte dann der Umzug nach Berlin, während sie nebenbei noch Produktion in Arhus studiert und dafür dänisches Bafög bekommt. Kürzlich hat Mortenson eine Band gegründet: Mit drei Freundinnen ist sie „The Uncontrollables“ – sie, die so große Stücke hält auf ihr drogenfreies und kaum vom Alkohol berührtes Leben. Aber hat man sie mal erlebt, weiß man, dass sie es bei aller Extrovertiertheit schätzt, die Kontrolle zu behalten: Mit unglaublich genauen und energiegeladenen Bewegungen begleitet sie sowohl ihr Sprechen als auch ihre Bühnenauftritte. Bei den Uncontrollables aber soll der Kontrollverlust auf einer anderen Ebenen stattfinden: Girl-Group-Klischees aufbrechen, Gender-Ketten abwerfen und mal queere erotische Fantasien füttern. So treten sie zum Beispiel grundsätzlich bärtig auf – nicht schnurrbärtig-süß à la Coco Rosie, sondern so richtig mit Vollbart über der Krawatte, was Heidi „ziemlich sexy“ findet. Zum Glück ist Heidi Mortenson nicht der Tourmanager einer britischen Rock-’n’-Roll-Band, sondern das nächste große Tomboy-Ding aus Berlin.

Heidi Mortenson: „Wired Stuff“ – Record Release, heute, nbi, 21 Uhr