Blogger rütteln Kreml wach

SOZIALE NETZWERKE In der gleichgeschalteten Medienlandschaft Russlands übernehmen Internetnutzer inzwischen nicht nur Aufgaben der Presse, sie prangern auch die Willkür von Verwaltung und Ordnungshütern an. Das von Putin errichtete System erodiert

■ Putin soll abtreten, fordern die Initiatoren des Aufrufs „Putin raus!“, der auf der Internetseite putinavotstavku.ru seit Ende letzter Woche zur Unterzeichnung ausliegt. Initiatoren der Aktion sind bekannte Oppositionelle wie der Exschachweltmeister Gari Kasparow, Russlands früherer Vizepremier Boris Nemzow, die Bürgerrechtler Lew Ponomarjow und Jelena Bonner sowie der Satiriker Wiktor Schenderowitsch. Wladimir Putin habe Russland in seiner Amtszeit in eine historische Sackgasse geführt, behaupten die Unterzeichner. Unter seiner Ägide sei das Land zu einem „unberechenbaren und korrupten“ Staat geworden, der nicht einmal gegenüber den eigenen Bürgern Mitleid walten lasse. Putins Politik führe dazu, das Volk in eine „willen- und seelenlose amoralische Masse zu verwandeln“. Für die Unterzeichner des Aufrufs gleicht das System Putins einer „autoritären Kleptokratie“, in der nur ein paar parasitäre Staatsunternehmen [etwa Gazprom; d. Red.] und Günstlinge des Kreml Vorteile genießen würden. Erst dann werde Russland wieder einen demokratischen Weg einschlagen können, wenn der Premierminister von allen Hebeln der Macht endgültig entfernt worden sei, heißt es in dem Schreiben, das bis zum Sonntagabend 7.100 Internetnutzer unterzeichnet hatten.

AUS MOSKAU KLAUS-HELGE DONATH

„Für sie sind wir keine Menschen!“, meint „altomira“ im Internet. Der Blogger ist nur einer von zigtausenden Netzwerkern, die sich über Willkür und Erniedrigung durch Polizei und Staat in Internetforen beklagen. Anlass war ein Verkehrsunfall in Moskau, der die Gemüter seit zwei Wochen nicht mehr zur Ruhe kommen lässt. Spätestens als sich Präsident Dmitri Medwedjew in die Ermittlungen einschaltete, wurde aus dem Unglück auch ein Politikum.

Was war passiert? Ein Mercedes stieß am Gagarinplatz mit einem Citroen frontal zusammen. Dessen Insassen, eine bekannte Frauenärztin und eine Hebamme, erlagen den Verletzungen. Im Mercedes saßen der Vizechef des Ölkonzerns Lukoil, Anatoli Barkow, und sein Fahrer. Beide kamen mit Schrammen davon. Für die Polizei war die Schuldfrage sofort gelöst. Obwohl Augenzeugen das Gegenteil bekundeten, erklärte sie die getöteten Frauen zu den Unfallverursachern. Videoaufnahmen, die zur Aufklärung hätten beitragen können, verschwanden oder waren bereits gelöscht. Dabei müssten Dutzende Kameras den Unfall festgehalten haben, denn der Gagarinplatz liegt an einer Ausfallstraße, die zum Regierungsflughafen führt. Auch wurden die Nummernschilder des Mercedes noch am Unfallort abgeschraubt: Deren Buchstaben SSS sind für den Geheimdienst üblich.

Binnen weniger Stunden griff die Bloggerszene den Fall auf und suchte weitere Zeugen. Auch der Verband der Autobesitzer klinkte sich ein, und bekannte Persönlichkeiten veröffentlichten noch am selben Tag im Internet einen offenen Brief an den Kreml: „Besitzer von Autos mit Sondernummern und Blaulicht sind für einfache Verkehrsteilnehmer nicht nur zu einer Bedrohung geworden, sie machen sie vor dem Gesetz zu Menschen zweiter Klasse.“

Wenige Tage später ereignete sich ein neuer Fall. Die Polizei zwang zwei unbeteiligte Autofahrer, sich mit ihrem Wagen einem flüchtigen Verbrecher als Straßensperre auf dem Moskauer Autobahnring entgegenzustellen. Als der Flüchtige die Sperre durchbrach, eröffneten die Polizisten das Feuer. Die Fahrer kamen mit dem Leben davon, nur die Autos wurden demoliert. Einer der Fahrer erzählte die Geschichte in einem Forum, und die Szene griff auch diesen Vorfall sofort auf. Moskaus Polizeichef musste sich öffentlich entschuldigen und versprach, die beschädigten Wagen reparieren zu lassen. Auf wessen Kosten, verschwieg er. Stattdessen verlieh er den Automobilisten für ihr „heldenhaftes Verhalten“ eine Ehrenurkunde.

In der gleichgeschalteten Medienlandschaft Russlands übernimmt die virtuelle Gemeinde der wachsamen Netzwerker inzwischen nicht nur Aufgaben der Presse, sondern auch Funktionen der korrumpierten Ordnungshüter. Nach einer ComScore-Studie 2009 gelten die Russen im sozialen Netzwerken als Weltmeister. Vor allem die jüngere Generation nutzt Plattformen wie das livejournal, MySpace oder Facebook, um sich über alltägliches Unrecht auszutauschen. Im Internet lässt sich schnell mobilisieren, zudem ist es mit weniger Gefahren verbunden, als auf der Straße zu demonstrieren. Besonders wirksam ist die Methode, wenn sich der Präsident – ein bekennender Blogger – des Anliegens auch annimmt. Auf diesem Umweg gelangt die Nachricht dann doch noch über die gleichgeschalteten Medien an eine breitere Öffentlichkeit. Das unterhöhlt langfristig die von Wladimir Putin installierte „Vertikale der Macht“ und läuft der Staatsräson zuwider.

Vor allem die jüngere Generation nutzt die sozialen Netzwerke, um über tägliches Unrecht zu berichten

Die Unzufriedenheit der Bürger mit dem ineffektiven System wächst. Vor allem die allgegenwärtige Korruption und ständige Übergriffe der Sicherheitsorgane sorgen für Unmut. Vor einigen Monaten wäre es noch undenkbar gewesen, dass eine tausendköpfige Menge dem russischen Rockstar Juri Schewtschuk, der zu zivilem Ungehorsam aufruft, auf einem Konzert im Moskauer Olympiapalast lauthals Zustimmung bekundet: „Wie viele Dreckskerle in Uniform, die sich im Umfeld der Macht satt futtern, berauben uns, töten uns auf den Straßen oder schießen in Geschäften wild um sich, ohne dafür bezahlen zu müssen.“ Der Altrocker spielte damit auf einen Amok laufenden Polizisten an, der im letzten Jahr drei Menschen in einem Supermarkt im angetrunkenen Zustand erschoss und mehrere schwer verletzte. Der Vorfall ließ sich nicht mehr vertuschen. Wichtiger indes: Seitdem gelangen fast täglich neue Verstöße und Verbrechen ans Tageslicht. Der Sicherheitsapparat haben sich in der Ära Putin in eine Kaste der Unantastbaren verwandelt, die Ämter zum privaten Vorteil nutzt. Das System verrottet, sodass der Abgeordnete Andrej Makarow, der für die Kremlpartei Vereinigtes Russland in der Duma sitzt, im Januar kurzerhand empfahl, das Innenministerium aufzulösen.

Die politisch Verantwortlichen wissen noch nicht, wie sie mit dem wachsenden Missmut umgehen sollen. Bislang steuerten Präsident Medwedjew und Premier Putin das Land im „Handbetrieb“. Brannte es irgendwo, eilten sie an den Brandherd und verteilten großzügige Geschenke. Nun geht das Geld aus und die Brandherde häufen sich. Dass die rigide Machtpyramide fast alle eigenständigen Institutionen in den Regionen beseitigte, erweist sich in der Krise als Nachteil. Es gibt keine Pufferzone mehr. Missstände werden automatisch der Führung in Moskau angelastet.

Noch hält sich der Protest freilich in Grenzen. Kremlchef Medwedjew und Premier Putin erreichen mit mehr als 50 Prozent Zustimmung in Umfragen immer noch Traumwerte. Doch die Statistik trügt ein wenig; davon zeugt auch die Unruhe im Kreml. Nachdem Russlands „souveräne Demokratie“ alle politischen Kontrahenten aus dem Weg geräumt hat, kommt in der Zustimmung auch so etwas wie resignative Perspektiv- und Alternativlosigkeit der Bevölkerung zum Ausdruck. Der alles beherrschende Wladimir Putin schläferte die Zivilgesellschaft seit Beginn seiner Amtszeit vor zehn Jahren bewusst ein. Der Staat bot seinen Bürgern wachsenden Wohlstand und verlangte im Gegenzug politische Enthaltsamkeit. „In der Krise wächst die Sensibilität für die totale Lüge, mit der sich alle im Interesse des steigenden Lebensstandards arrangiert hatten“, meint Michail Deljagin, Leiter des Moskauer Instituts für Globalisierung. Er ist zuversichtlich, dass Bürgergesellschaft und Gegenöffentlichkeit allmählich zurückkehren. Vor einem Jahr hätten sich auf Moskaus angesagten Partys viele noch stolz dazu bekannt, die Kremlpartei Vereinigtes Russland zu wählen oder gar deren Mitglied zu sein. Heute sei es einfacher, „sich als Homosexueller zu outen, denn Unterstützung für die ‚Partei der Macht‘ zu bekunden“. In der homophoben Atmosphäre Russlands will das in der Tat etwas bedeuten.

Es bewegt sich etwas. Davon zeugen auch die landesweiten Demonstrationen, an denen nicht wie bislang hunderte, sondern tausende Bürger teilnehmen. Ihr Protest macht sich ähnlich wie bei den Bloggern zunächst an staatlicher Willkür und sozialen Problemen fest, die auf den Nägeln brennen. Doch enden die meisten Veranstaltungen mit denselben politischen Forderungen: nach dem Rücktritt Wladimir Putins und der Wiedereinführung der Gouverneurswahlen.

Es ist nicht die kleine Gemeinde der ewig nörgelnden Opposition, die das verlangt, sondern der bislang unpolitische Bürger. Auch der Rücktritt der Gouverneure wird oft gefordert. Die Provinz hat es satt, sich von „Warägern“ verwalten zu lassen. So werden die aus Moskau entsandten Statthalter in den Regionen genannt. „Die Stimmung kippt gerade dort“, meint der Politikwissenschaftler und Publizist der Nowaja Gaseta, Andrej Rjabow.

Die Unzufriedenheit wächst: wegen der allgegenwärtigen Korruption und der Übergriffe der Polizei

„Aus dem Weg, ihr Proleten, / kommt uns nicht unter die Räder, zittern sollt ihr, / ihr armseligen Plebejer, die Straße gehört Patriziern, / freie Fahrt unserer Kampfkalesche, / wir sind schon im Verzug auf dem Weg in die Hölle“, dichtete der Rapper Noize MC nach dem Moskauer Unfall. Hunderttausende schauten sich das Video im Internet an.

An diesem Wochenende zittert ausnahmsweise die Staatspartei Vereinigtes Russland. Bei 7.000 Regional- und Lokalwahlen wurden schon im Vorfeld massive Manipulationen gemeldet, und nicht alle Plebejer schauen mehr weg.

Vergangenen Freitag klingelte es an der Tür. „Guten Abend, wir ermitteln im Zusammenhang mit dem Unfall. Haben Sie etwas gesehen? Zwei Wochen nach dem Unglück beginnt die Polizei mit der Beweisaufnahme. Der Kreml hat es angeordnet.