die unterseitenfotografie von EUGEN EGNER
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Vor einiger Zeit tauchten Pullover auf, die in kürzester Zeit zum Stadtgespräch wurden. Auf allen Straßen, in Geschäften und Restaurants, waren die Menschen in hitzige Diskussionen darüber verwickelt. Besonders die Mitarbeiter der Textilbranche, Verkäuferinnen und Verkäufer vornweg, gerieten außer sich. In hellen Scharen stürzten sie aus ihren Läden und verrieten tiefe Betroffenheit.

Man konnte dies verstehen, wenn man einen Blick auf die fraglichen Pullover warf. Genau in dem Moment, als ich drauf und dran war, mittels flüchtigen Hinsehens ihre schismatische Natur zu erkennen, wurde ich zum Chef gerufen. Die Kerzen in seinem schütteren Haar waren halb heruntergebrannt, sein Mund war feierlich mit Schokolade verschmiert. Ohne Umschweife und ohne mir einen Stuhl anzubieten (dabei hätte ich gern einen genommen, denn ich suchte noch welche für den neuen Küchentisch), kam er zur Sache: „Ich erteile Ihnen jetzt den Auftrag. Gehen Sie und fotografieren Sie die Seriennummer auf der Unterseite von Lucia Hübner.“ – „Hab ich schon!“, entgegnete ich vorlaut. „Dann eben die von Helen Wolgschaft“, bestimmte der Chef. Das haute mich um.

Hätte man mir einen Haufen Büroklammern hingeworfen und zum Vergleich ein Bild von Helen Wolgschaft danebengestellt, hätte ich Helen Wolgschaft jederzeit sogar mit gewaltsam zugehaltenem Mund erkannt, aber das war jetzt etwas ganz anderes, denn die Seriennummer auf der Unterseite von Helen Wolgschaft fotografierte so schnell keiner. Ihr ganzes Wesen streifte ans Mädchen. Ihr Motto lautete sogar: „Ich bin Helen Wolgschaft, so ein Mädchen gibt es kaum noch einmal.“ Da traute sich keiner ran, nicht einmal der junge Tetzlaff oder die Funktionäre aus dem dritten Stock.

Ich schnappte nach Luft und überlegte mir Ausreden wie etwa die, der Fotoapparat sei noch nicht erfunden, oder ich müsse zuerst die Brandenburgischen Konzerte für Zweitausendeins einspielen, doch das half alles nichts. Noch am selben Tag zog ich mehrere schismatische Pullover übereinander an und machte mich auf den verschneiten Weg. Auf die Pullover bekam ich 20 Prozent Rabatt, und mit diesen 20 Prozent auf den Pullovern kam ich dann gegen Abend bei dem kleinen Häuschen von Helen Wolgschaft an. Ich donnerte ans Radaublech neben der Tür, woraufhin mich ein Herr Pawlow in die Küche führte. „Helen ist im Obergeschoss und kriegt schnell ein Kind“, sagte er noch, bevor er das Licht löschte und eilig ins Dorf lief.

Solange ich in der dunklen Küche mit der Lochkamera im Anschlag wartete, vertrieb mir Helens Großvater die Zeit. Zuerst bemerke ich ihn gar nicht, denn er saß in der warmen Asche neben dem Herd. Mit der Zeit erkannte ich aber, wo die Asche aufhörte und der Großvater anfing. Hilfsbereit bot er mir eine Handvoll Asche an. Ich lehnte dankbar ab, mein Ernährungsberater hatte mir bis auf weiteres Asche verboten.

Helen kam noch nicht, doch da traf eine Depesche von ihr ein, worin sie mitteilte, es könne etwas dauern. Inzwischen solle ich ruhig etwas Asche nehmen. Auf diese Weise wäre ich später kräftig genug, sie zu überwältigen und die Seriennummer auf ihrer Unterseite zu fotografieren.