Erster Platz für die Ukraine in Sachen Aids

US-Menschenrechtsorganisation Human Rights Watch legt neuen Bericht zu HIV/Aids in der Ukraine vor. Europaweit hat das Land die höchsten Zuwachsraten. Der Anti-Aids-Kampf wird durch Korruption bei staatlichen Stellen und der Polizei behindert

VON BARBARA OERTEL

Die Ukraine hält seit kurzem einen neuen Europarekord, allerdings einen traurigen: Schätzungsweise 416.000 Menschen, das heißt 1,7 Prozent der Bevölkerung im Alter von 15 bis 49 Jahren waren 2005 HIV-positiv bzw. an Aids erkrankt. Damit hatte das Land im vergangenen Jahr in Europa die höchste Steigerungsrate und gehört auch weltweit zu den Staaten, in denen sich HIV/Aids am schnellsten ausbreitet.

Diese alarmierenden Zahlen finden sich in dem neusten Bericht „Rhetorik und Risiko: Wie Menschenrechtsverletzungen den Kampf der Ukraine gegen HIV/Aids behindern“ von Human Rights Watch (HRW), den die US-Menschenrechtsorganisation gestern vorstellte. 70 Prozent der zwischen 1987 und 2004 registrierten Fälle betreffen Drogenabhängige, die an der Nadel hängen, wobei der Drogenkonsum häufig durch Prostitution finanziert wird. Mittlerweile steigt die Infektionsrate auch bei Frauen massiv an, die zu keiner der beiden Risikogruppen gehören. Der Anstieg von HIV/Aids fällt mit einer starken Ausbreitung von Tuberkulose zusammen, die bei HIV/Aids-Infizierten häufigste Todesursache ist.

Angesichts dieser Entwicklung habe Kiew eine Reihe positiver Schritte unternommen, um der Epidemie zu begegnen, stellt der Bericht fest. So sei die entsprechende Gesetzgebung 1998 und 2001 um Klauseln zum Schutz der Rechte der Betroffenen ergänzt worden. Zudem sieht das ukrainische Aids-Gesetz Präventionsprogramme für Drogenabhängige, einschließlich der Einrichtung von Abgabestellen für Spritzen vor. Seit September 2005 laufen in sieben Städten Substitutionstherapie-Programme, die bis 2008 6.000 HIV-Infizierte erreichen sollen.

Zum 1. Januar dieses Jahres haben internationale Organisationen mit 100 Millionen Dollar den Kampf gegen Aids in der Ukraine unterstützt. Mit einem Teil dieser Mittel startete die ukrainische Nichtregierungsorganisation Internationale HIV/Aids-Allianz mit Hilfe der UN-Einrichtung „Globaler Fonds zum Kampf gegen Aids, Tuberkulose und Malaria“ ein Programm zur Antiretroviral-Therapie (ART), in dessen Rahmen zwischen April 2004 und Dezember 2005 2.600 Erkrankte behandelt wurden.

„Mit den Mitteln könnten aber schon 17.000 Erkrankte in ART-Therapie sein“, kritisiert Frieder Alberth von Connect plus e.V., die sich für die Unterstützung von Aids-Projekten in Osteuropa engagiert. Gründe für die mangelnde Effizienz der Internationalen HIV/Aids-Allianz, die die Gelder des Globalen Fonds im Land verteilt, sieht Alberth in einer überbordenden kostenintensiven Bürokratie, mangelnder Koordination sowie dem Umstand, dass Mitarbeiter staatlicher Stellen mittlerweile lukrative Beraterverträge mit besagter NGO hätten. Der Globale Fonds prüfe zu wenig, was an der Basis ankomme und gebe sich mit schönen Berichten zufrieden, so Alberth.

Doch mögliche Erfolge beim Anti-Aids-Kampf werden auch noch von anderer Stelle torpediert: einer völlig korrupten Polizei. Für die sind Infizierte, Drogenabhängige und Prostituierte eine bevorzugte Beute. So sind Verhaftungen von Drogenabhängigen und Prostituierten wegen des Besitzes von Spritzen und Drogen, die die Polizei ihren „Opfern“ nicht selten unterschiebt, sowie Misshandlungen auf den Revieren an der Tagesordnung. „Sie legten mir Handschellen an und schlugen mich überall. Dann wickelten sie mir ein Telefonkabel um den Penis und schlossen das Telefon an“, berichtet ein 46-Jähriger gegenüber HRW, den die Polizei an einer Spritzenabgabestelle festgenommen hatte. Derartige Zentren, die die Betroffenen zunehmend meiden, sind bevorzugte Einsatzorte der Polizei, um ihre Quote zu erfüllen und den vermeintlichen Delinquenten Informationen und Geld abzupressen.

Doch nicht nur Ordnungshüter machen sich der Rechtsverletzungen schuldig. So listet HRW zahlreiche Fälle auf, in denen Ärzte HIV/Aids-Erkrankten Hilfe und Behandlung verweigerten oder allenfalls gegen horrende Gebühren gewähren.

Eine der Forderungen von HRW an die ukrainische Regierung lautet, die unrechtmäßige Anwendung von Gewalt und Folter durch die Polizei und anderen Staatsbediensteten gegenüber Drogenabhängigen und Prostituierten unverzüglichen einzustellen. Dies dürfte trotz Orangener Revolution vorerst ein frommer Wunsch bleiben.