Emanzipation im Keim

Warum Erziehung so mächtig ist, dass auch der Sozialismus nicht gegen die tradierte Arbeitsteilung ankam: Heidemarie Ott, Leiterin des Literaturzentrums, sinniert über Frauen in Ost und West

Viele glauben, da alles schon gesagt sei, sei auch alles erreicht. Aber das täuscht

Interview: Petra Schellen

Als sie 15-jährig aus der DDR in den Westen kam, traf es sie wie ein Schlag: Einem Kulturschock gleich erlebte Heidemarie Ott, seit 1990 Leiterin des Hamburger Literaturzentrums, das Verhalten westlicher Mädchen und Frauen. Doch auch wenn der Sozialismus offiziell keine Rollenunterschiede pflegte: Subtile Differenzen gab es doch. Wir sprachen mit ihr über tradierte Muster und die Notwendigkeit von Frauentagen.

Welche weiblichen Vorbilder haben Sie aus Ihrer DDR-Jugend mitgenommen?

Heidemarie Ott: Meine Eltern waren Landwirte, so dass ich – unabhängig vom politischen System – von Anfang an andere Vorbilder hatte, als das in der Stadt der Fall gewesen wäre. Denn die Bäuerinnen waren Frauen, die schwere Arbeiten verrichteten und gar nicht auf die Idee kamen, sich erstmal eine Stunde lang zu schminken, bevor sie zur Arbeit gingen.

Wäre Letzteres in der DDR überhaupt denkbar gewesen?

Nein, weil solches Rollenverhalten gesellschaftlich nicht vermittelt wurde. Diese Erziehung zur Weiblichkeit, wie sie im Westen ausgeprägt war und ist, gab es dort nicht. Man wurde zur sozialistischen Persönlichkeit erzogen – woraus ja leider nur Stalinismus wurde. Aber es gab den von Rudolf Bahro beschriebenen „Sozialismus im Keim“. Analog könnte man von einer Emanzipation im Keim sprechen, die sich mit der Erziehung zur sozialistischen Persönlichkeit verschränkte. Denn es gab keine Frau mit dem „Beruf“ Hausfrau und Mutter – was für das Selbstverständnis sehr wichtig war.

War Weiblichkeit, war die Erziehung zur Frau in der DDR überhaupt ein Thema?

Nein. Auch das Entwickeln einer spezifisch weiblichen Identität war kein Thema. Man wurde erzogen als Mensch. Und als wir im Internat z. B. heimlich die verbotenen Kitschromane aus dem Westen à la „Krankenschwester heiratet Chefchirurgen“ lasen, haben wir uns mächtig darüber amüsiert. Wir waren weder für den sprachlichen Duktus, noch für die Rollenzuschreibungen anfällig.

War in der DDR also die totale Gleichberechtigung erreicht?

Nein. Innerhalb der Familien herrschte die klassische Arbeitsteilung: Die Frau wäscht ab, während der Mann die Reifen flickt.

Wie fräsen sich solche Muster in eine sozialistische Gesellschaft?

Diese Rollen haben die Frauen wohl von ihren Müttern und Großmüttern übernommen.

Die sozialistische Erziehung kam also nicht gegen diese Muster an. Wurde das je thematisiert?

Das wurde weder empfunden, noch diskutiert.

Sie sind 1961 mit Ihrer Mutter in den Westen gegangen. Haben Sie sich unter Westfrauen gleich wohl gefühlt?

Als ich in Hamburg auf die Höhere Handelsschule kam, hatte ich ein großes Fremdheitsgefühl. Die Koketterie der Mädchen kam mir sehr merkwürdig vor. Denn die wichtigste Kommunikationsebene mit Männern – auch jenseits des Flirts – war die Körperlichkeit. Diese Mädchen definierten sich ausschließlich über die Geschlechterhülle. Das hatten wir in der DDR nicht gelernt.

Kann man sagen, in der DDR ging es sachlicher zu?

Es ging geschlechtsneutraler zu, und das meine ich positiv.

Wie kann man gesellschaftliche Kräfte letztlich besser bündeln – im Modell West oder im Ex-Modell Ost?

Man hätte sie besser bündeln können, wenn in der DDR eine andere Art Sozialismus Raum bekommen hätte. Wenn sich der Stalinismus nicht durchgesetzt hätte mit seiner kleinbürgerlichen Repression. Dann wären Frauen wie Männer freier geworden, sich auf ihre eigentlichen Fähigkeiten zu konzentrieren.

Welche männlichen Rollenzuschreibungen bot die DDR?

Da alle gleich wenig verdienten und ein ökonomischer Status nicht zu erringen war, gab es auch keine Macho-Vorbilder. Und die Tatsache, dass niemand durch Geld herausragen konnte, erzeugte per se einen höheren Grad an Gleichberechtigung.

Wozu diente dann dort der Frauentag?

Im wesentlichen, um die Frauenbewegung um Clara Zetkin zu würdigen. Es war ein eher historisches Datum. Denn um anzumahnen, was auch in der DDR fehlte an Gleichberechtigung, wurde der Tag nicht genutzt.

Aktuell gewinnt man oft den Eindruck, dass Frauen die Gleichberechtigung nicht mehr thematisieren wollen, weil sie glauben, die Emanzipation sei gelaufen. Wie kommt das?

Sie glauben, da alles schon gesagt worden sei, sei auch alles schon getan. Sie nutzen die von anderen erkämpften Freiräume, bedenken aber nicht, dass man die ab und zu absichern muss. Die Frauenbewegung hat viel errungen, aber etliches wurde noch nicht erreicht: die Erhöhung der Präsenz der Frauen in Deutschlands Politik, gleiche Bezahlung, Arbeitsteilung in der Familie ...

Aber an Letzterem hat ja sogar die sozialistische Erziehung nichts ändern können.

Da helfen wohl nur autoritäre Maßnahmen. Ich würde mich über eine Familienministerin freuen, die sagen würde: Es gibt nur Kindergeld oder Elterngeld, wenn auch die Männer ein Erziehungsjahr lang zu Hause bleiben. Diesen Druck muss der Staat ausüben. Das machen die Leute nicht von selbst.